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Fakten zur Aufführung 

„DIE FRANZOSEN“
(Marcel Proust, bearbeitet von
Krzysztof Warlikowski und Piotr
Gruszycznski)
23. August 2015
(Uraufführung am 21. August 2015)

Ruhrtriennale,
Maschinenhalle Zweckel Gladbeck


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Eine Reportage-Collage

Beziehungsverhältnisse haben Krzysztof Warlikowski schon immer interessiert. Seine mittlerweile legendäre Fassung von Alban Bergs Lulu 2012, aber auch schon Cherubinis Médée 2008, Verdis Macbeth 2010 und zuletzt der aufgrund seiner hoffnungslosen Kälte und erbarmungslosen Drastik bei Teilen des Publikums als Skandal aufgenommene Don Giovanni, alle am Brüsseler Opernhaus, sind dafür prominente Beispiele. Auch Marcel Proust mit seinem Hauptwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist ihm ein altes Faszinosum. Bereits 2002 zeigt er am Bonner Schauspiel eine erste Theatralisierung des monumentalen Romanwerkes:  Fäden also, die Warlikowski für die aktuelle Ausgabe der Ruhrtriennale unter der neuen Leitung von Johan Simons wieder aufnimmt. Die unter dem Titel "Die Franzosen" annoncierte Romanadaption ist eine Koproduktion mit Warlikowskis eigenem Theater, dem Nowy Teatr in Warschau, wo die Produktion im Oktober zu sehen sein wird. Weitere Kooperationspartner sind das Théâtre National de Chaillot in Paris, die Comédie de Genève, die Comédie de Clermont-Ferrand, Le Filature in Mulhouse und Le Parvis in Tarbes in den französischen Vorpyrenäen. Die Aufführung wird in polnischer Sprache gegeben, in Gladbeck gibt es deutsche und englische Übertitel; sie ist in drei Teile gegliedert und dauert inklusive zweier Pausen knapp fünf Stunden.

Marcel Proust, geboren 1871, gestorben 1922, verfasst den in jetzigen Fassungen siebenbändigen Roman in den Jahren 1908 bis 1922, publiziert wird er 1913 bis 1927. Er ist ein Dokument einer von Dekadenz gezeichneten Epochenwende vom endenden 19. zum beginnenden 20. Jahrhundert, zugleich aber auch ein Roman der Subjektivitätskonstitution qua Erinnerung und der Theorie der Künste. Es versteht sich von selbst, dass jede Adaption von A la recherche du temps perdu für Theater oder Film immer in irgendeiner Form scheitern muss und nur bestimmte, geringe Aspekte des Werkes ausleuchten kann; der reflexiv-deskriptive Grundcharakter des Romans als philosophisches Erinnerungskunstwerk steht einer theatralen Bearbeitung eigentlich grundsätzlich entgegen. Warlikowski untertitelt die Produktion denn auch einschränkend „inspiriert von Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Es ist kein nostalgisches, literaturhistorisches oder gar sportliches Interesse, das ihn veranlasst, sich dem Riesenstoff zu widmen. Vielmehr benutzt er Romanthemen für die Deskription und Kritik der Gegenwart: Homophobie, Antisemitismus und Rassismus kennzeichnen das Fin de siècle wie das jetzige Tagesgeschehen, in den letzten Jahren sogar wieder mit steigender Tendenz. Prousts Kritik an einer erstarrten, passiven, selbstverliebten, saturierten und snobistischen Gesellschaft kontrastiert Warlikowski mit der aktuellen Situation: unter dem Primat von Ökonomie und Politik bleibt das Engagement für eine europäische Kultur verödet auf der Strecke: „Die Franzosen“ von damals sind die Europäer von heute.

Warlikowski Szenenfolge in „Die Franzosen“ lehnt sich im Prinzip an die Romanstruktur der Recherche an, collagiert aber immerfort weitere Texte, Opernfragmente und Musikstücke in das Textgewebe hinein. Im Salon der Sidonie Verdurin werden wir Zeuge der fulminanten Life-Uraufführung des Albumblattes für Cello und Tonband von Pawel Mykietyn – extra für die Produktion in Auftrag gegeben – in einer großartigen Interpretation des Cellisten Michal Pepol. Weiterhin erleben wir Paul Celans Gedicht Todesfuge in der bewegenden, historischen Lesung des Autors, treffen auf einen wütenden Text von Fernando Pessoa, hören die Einspielung einer Arie der Rachel aus Halévys La Juive, sowie die inquisitorische Schlussszene aus Debussys Pelléas et Mélisande und die monumentale Steigerung des Anfangs von Richard Strauss' Also sprach Zarathustra in einer an die Grenzen der Technik gehenden Lautstärke. Collage und Reportage, Text und Kontext, Thema und Kommentar, Rückblick und Ausblick sind Methode und Struktur der Produktion. Die Auswahl aus Proust konzentriert sich auf handlungsgetragene Elemente; auf die reflexiven oder poetischen, etwa die berühmte Madeleine-Episode, wartet man vergebens.

„Die Franzosen" beginnen mit einem hinzuimaginierten Prolog, eine Séance bei den Guermantes, dem alten Adelsgeschlecht, das bei Proust ein Bild für einen abgekapselten, weltfremden und in der Tradition verfestigten, arroganten, immer auch mehr oder weniger rassistischen Teil der Bevölkerung darstellt; Warlikowski zeigt sie denn auch entsprechend abgeschottet in einem schicken, riesigen, fahrbaren Glaspavillon. Er nutzt diese Szene als Nukleus der Produktion, entwirft gleich zu Beginn eine Sphäre von Rassismus und Antisemitismus, denn in der Séance wird der Geist von Alfred Dreyfus gerufen. In einem Monolog, stellvertretend für In Swanns Welt, hört man Texte der Urteile seiner Gerichtsverfahren. Die Dreyfus-Affäre ist das Symbol für Antisemitismus in Frankreich, auch ein Bild für die zwei Frankreich, das kritisch (links-) intellektuelle und die reaktionäre militärische und klerikale Grande nation. Gleich in der nächsten Szene reflektiert Marcel über sein brisantes Dasein als Homosexueller, den fortwährenden Zwang zum Versteckspiel, während man darauf im Salon der Guermantes dem so gepflegten wie gehässigen Gerede des hohen Adels lauschen kann, der sich offen antisemitisch gibt.

Natürlich sind wir auch Zeuge diverser entstehender und scheiternder Beziehungen des Proustschen Personals. Man blickt auf die von zerstörerischen Eifersuchtsdramen geprägte Beziehung von Swann und Odette, auf die durch Besitzansprüche grundierte Beziehung von Blaise und Oriane de Guermantes, die Romanze von Marcel und Albertine, die eher platonische Verbindung zwischen Swann und Oriane de Guermantes, das homosexuelle Verhältnis von Gilbert de Guermantes und Charles Morel, auf die von Gilbert betrogene Gattin Marie de Guermantes und so weiter. Am Ende ergänzt Warlikowski einen Monolog der Phèdre von Racine, die in der Recherche zentral und vielfältig Thema ist, als ein weiteres Beispiel einer gescheiterten Liebe. Das Resümee: Es gibt viele Beziehungsmodelle, keines gelingt.

Das Bühnenbild von Malgorzata Szczesniak ist kühl konturiert, zweigeteilt in die gläserne Welt des alten Adels und die des aufsteigenden Bürgertums der Verdurin, im Zentrum eine lange, glitzernd kühle Edelstahltheke für die Bedürfnisse der (halb-)gebildeten Unterhaltungsgesellschaft. Videos von Denis Guéguin kontrastieren die Szene mit Bildern scheinbar glückender menschlicher Beziehungen und mit von den Leiden an der Geschlechtlichkeit scheinbar unbelasteter Blüten, Seeanemonen und Seepferdchen.

Warlikowski inszeniert „Die Franzosen" so, dass der Zuschauer immer in einer Beobachterrolle bleibt, sich nicht identifiziert und so distanziert dem soghaften Geschehen folgt. Das liegt neben der Personenregie nicht zuletzt an dem grandiosen Soundtrack der Inszenierung von Jan Duszynski, der der Produktion etwas Filmisches oder Opernhaftes gibt und eine ganz besondere Atmosphäre erzeugt. Zentral ist dabei die Tempodramaturgie: Meist, gerade im ersten Teil, ist das Geschehen verlangsamt, zu Beginn des dritten Teils, das den Ersten Weltkrieg bezeichnet, zieht das Tempo auch extrem an, um sich für Die wiedergefundene Zeit, die Protagonisten stehen sich in ihrer Altersschwäche – „Vor dem Tod müssen wir zusammenhalten!“ – gegenüber, wieder zu verlangsamen. So zieht die Produktion vorbei wie ein Traum, real und irreal zugleich, der Nachgeschmack ist bitter.

Leise anfängliche Zweifel, ob so ein Projekt mit Erfolg gekrönt sein kann – ein als sperrig geltender Autor und Text, die lange Dauer des Abends und die auf Festivals fremde und vergleichsweise ungewohnte Theatersprache – verschwinden sogleich. Man stellt sich schnell auf die Konstellation des gleichzeitigen Lesens und Sehens ein; das Publikum hält konzentriert und ohne nennenswerte Abgänge den Abend durch und feiert die Inszenierung mit guten Gründen am Ende mit stehenden Ovationen: Das Ensemble des Nowy Teatre spielt fesselnd und überragend, es ist großes, seriöses, textgetragenes Schauspielertheater, wie man es selten zu sehen bekommt, die Produktion sitzt und ist extrem gut geprobt, die Textbearbeitung so intelligent wie plausibel und Warlikowskis bildmächtige und musikgetragene Regie von ungemeiner Faszinationskraft.

Dirk Ufermann

Fotos:
Tal Bitton/Ruhrtriennale 2015