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Fakten zur Aufführung 

REQUIEM
(Wolfgang Amadeus Mozart/
Richard van Schoor)
20. Juni 2014
(Premiere)

Stadttheater Gießen


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Fordernder Rahmen eines Fragments

Nein, ein Hype oder ein Skandal ist hier nicht zu besichtigen. Derlei liegt natürlich immer dann nahe, wenn sich die Industrie, sei es die Film-, sei es die Werbewirtschaft, der Megahits der E-Musik von Vivaldi über Puccini bis Mozart für ihre Zwecke „annimmt“, also instrumentalisiert. Auch nicht eine Remedur der Aufführungspraxis. Eine gültige, gar verbindliche hat sich gerade beim letzten, schließlich unvollendeten Werk von Wolfgang Amadeus eh nicht herausgebildet. Der Südafrikaner Richard van Schoor, Komponist und Pianist, hat es vielmehr gewagt, seine tonale Sicht von Tod und Vergänglichkeit mit der Originalfassung des Mozart-Requiems zu kombinieren und diese Synthese professionellen Theaterleuten zu überlassen. Im Endergebnis fügt sich alles zu einem multimedialen Musiktheater, in dieser Weise ohne Beispiel. Öffentlich geworden ist schlussendlich ein lebendiges Theaterexperiment, das sich zudem gleich zweimal sein Publikum sucht. In der ersten Hälfte des Juni auf der großräumigen historischen Galerie der Kunstfestspiele Herrenhausen in Hannover. Jetzt auf der auf der sehr viel kleineren Bühne im Großen Haus des Gießener Stadttheaters.

Schoor gehört offenkundig zu einer jungen Generation von Komponisten in Südafrika, die sich mit einer anderen musikalischen Sozialisation der europäischen Musikszene nähern, insbesondere Deutschland. Hier habe es die zeitgenössische Musik heute nicht mehr so schwer wie früher einmal, sagt Schoor. Unterstützung wie hier fänden Komponisten in keinem anderen Land. Festivals seien „sehr gut, sogar notwendig, um zeitgenössischer Musik ein Podium zu verschaffen“. Biographie, Komponistenambition und die Vorzüge des Musikstandorts Deutschland fließen zusammen, machen die Genesis des Projekts aus, es am Ende stark.

Die Ludwigsburger Schlossfestspiele sind der eigentliche Ausgangspunkt für das gesamte Unterfangen. 2010 beauftragte ihn die dortige Intendanz mit der Komposition eines Werks, das zusammen mit Mozarts Fragmentfassung des Requiem aufgeführt werden sollte. Das Ergebnis war Koan, begrifflich ein Wort für Rätsel im Zen-Budhismus. Mehr und mehr rätselhaft empfindet Schoor in dieser Phase die von Legenden umwitterte Originalfassung von 1791, also die um die Ergänzungen des Mozart-Schülers Franz Xaver Süßmayr gekappte Version ohne Sanctus und Agnus Dei. Der Komponist hat sich für die Grundlage des Projekts für die Bühnen Herrenhausen und Gießen entschieden.

Kenge – Hitotsu no Kotae heißt das von Schoor komponierte komplementäre Stück für vier Solisten, Chor und Orchester. Der Titel, zu deuten als „Antwort auf ein Rätsel“, spielt auf den Ludwigsburger Vorläufer an und verarbeitet existenzphilosophische Einsichten aus dem Zen-Buddhismus. Im Widerspruch zum neuzeitlichen Denken sollen zudem Wege aus dem engen rationalen Denken aufgezeigt werden. Weiteres Material sind lyrische Texte von Giuseppe Ungaretti, Christa Wolf, Matei Vișniec, die in die Collage integriert werden. „Ich fasse Mozart nicht an“, hat Schoor sein Konzept erläutert. „Sein Requiem steht für sich. Ich habe auch keine Rekonstruktion oder gar eine Vollendung des Fragments geschrieben. Was ich getan habe, ist, eine Art Gerüst für das Werk anzufertigen.“ Er nennt es „eine Umrahmung, ein Hineinführen und ein Hinausführen“.

Das mit dem „Gerüst“ haben der Schauspiel- und Opernregisseur Christof Nel und seine Ko-Regisseurin Martina Jochem sowie Thomas Goerge, Bühne und Kostüme, fast zu wörtlich genommen. Die Protagonisten des Geschehens und der Themen Mozarts –Angst, Einsamkeit, Schmerz, Aufbegehren, Hoffnung, Verlust und Tod – agieren in einer Szenerie von Baugerüsten und allerlei willkürlich ausgestreutem Mobiliar aus unserem Alltag. Auszumachen sind ein Podest mit einem derangierten Kleinwagen, ein höhenverstellbares Bett, ein massiver Sessel und allerlei Gerätschaften für Haus und Garten.Im Prozess der Aufführung erfahren die Versatzstücke der banalen menschlichen Existenz wechselnde Bedeutung. So fungiert zum Beispiel das Bett einmal als Ort der Zeugung und der Geburt des Lebens, zum anderen als Schauplatz des Schlafens und des Sterbens. Was in der Herrenhauser Galerie seinen Platz gehabt haben mag, wirkt in der „Schmalbandversion“ auf der Gießener Bühne schon arg gequetscht. Zudem werden die Sinne des Publikums fortwährend traktiert. Auf den Rückwänden der Bühne und über den Köpfen der Zuschauer laufen Videoclips mit Takes aus Kinofilmen, in denen das Mozartsche Fragment eine Quelle der Filmmusik ist. Auf der Bühne müht sich der Tänzer Valenti Rocamora in allerlei Figuren und Posen um eine dramaturgische Relevanz, die schwer zu fassen ist. In den Kenge-Anteilen wird wortmächtig und heftig deklamiert und rezitiert, allen voran die österreichische Schauspielerin Anna Franziska Srna, mal schwanger, mal auf Stöckelschuhen, mal ganz „Kassandra“, das Schicksal fordernd.

Laute, Lärm, Rascheln, Pfeifen – wie beim Vorläufer Koan arbeitet Schoor mit einem eigenen Faible für und einer sehr spezifischen Auffassung von Geräuschen. Darunter ist das Knistern von Cellophanpapier, das in Phasen des Übergangs – etwa von Schoor zu Mozart – wie ein Instrument eingesetzt wird. Wer Schoors Kompositionsstil auf einen Begriff zu bringen versucht, findet hier einen Ansatzpunkt. Spielt er nicht mit der Verfremdung durch Geräusche, ist seine Musik in der Korrespondenz zu Mozarts letztem Werk kaum auf einen Nenner zu bringen. Es gibt Schlieren und Schleiftöne in den Streichinstrumenten, allerlei Pfeiftöne ansonsten, nicht nur Atonales insgesamt. Perspektivisches Musiktheater 2014?

Das Projekt hat indes auch eine Dimension, die immer wieder Menschen zum Besuch eines Opernhauses verführt. Clou des Ganzen ist die durchaus generös zu benennende Besetzung der Gesangspartien. Während sich bei Mozart Sopran und Alt, Tenor und Bass ganz klassisch die Solopartien teilen, besetzt Schoor die Solisten der Aufführung ausnahmslos mit Männern, als wolle er an die Tradition des Barock anknüpfen. Die Countertenöre Valer Sabadus und Filippo Mineccia, der Tenor Daniel Johannsen und der Bass Tomáš Král sind erste Wahl. Leider hat der zuletzt mit der Vinci-Produktion Artaserse populär gewordene Sabadus nicht so viele Gelegenheiten wie zuletzt in der Gießener Agrippina, Zeugnis von seiner subtilen Kunst abzulegen. Die aber nutzt er eindrucksvoll. Das nicht minder exquisite Ensemble in dieser Produktion ist der Tölzer Knabenchor, ein vom Stimmenmaterial her teils rauer, teils spröder Kontrast zu den luziden vokalen Ausflügen der Solisten. Das Philharmonische Orchester Gießen in reduzierter Besetzung unter Leitung seines GMD Michael Hofstetter meistert die unterschiedlichen Anforderungen der Komposition souverän. Die Philharmoniker profitieren wohl auch von dem Vorlauf der Aufführungen in Herrenhausen einige Tage zuvor.

Schoor hat an den Schluss der Aufführung das Ave Verum platziert. Diese unendlich empfindsamen 46 Takte für Chor, Streicher und Orgel entstehen knapp ein halbes Jahr vor Mozarts Tod, während er zugleich an der Zauberflöte und dem Requiem arbeitete. Sind sie als eine Botschaft des Trosts zu verstehen, stehen sie damit diametral zur Todesnähe der Musik des Requiem. In Gießen entfalten sie sich a cappella. Im Auditorium ist es jetzt absolut still. Ist das Rätsel damit gelöst, inkonsequent, aber schlüssig? Der Bogen von Koan zu Kenge geschlagen? Ein neues Geheimnis offenbar geworden?

Gießen ist eine Universitätsstadt, ein vielleicht besonders geeigneter Ort für eine kühne Ambition des heutigen Musiktheaters, das seine besten Traditionen bewahrt. Wer weiß. Viele junge Leute jedenfalls sind im Publikum. Es feiert das Inszenierungsteam wie das Solistenquartett und die wunderbaren jungen Akteure des Tölzer Knabenchors. Solche Aufgeschlossenheit für Innovatives ist nicht an jedem beliebigen Kulturstandort anzutreffen. Der Sommer mag nun getrost kommen. Für viele eh nur ein Übergang zur nächsten Spielzeit mit neuen Erkundungen in die ewig junge Kunst der Oper. In Gießen per se und zum Glück andernorts auch.

Ralf Siepmann

Fotos: Rolf K. Wegst