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Fakten zur Aufführung 

NAHOD SIMON
(Isidora Žebeljan)
29. Mai 2015
(Uraufführung)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen


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Zwischen Heiligenlegende und Bauerntheater

Nahod Simon – Simon, das Findelkind: Isidora Žebeljans fünftes Opernwerk präsentiert sich als ausgesprochen serbische Angelegenheit, die das Premierenpublikum des Musiktheaters im Revier zwar vor Begeisterung von den Sitzen reißt, im Kontext der europäischen zeitgenössischen Oper jedoch einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Die kulturellen Unterschiede in einem gemeinsamen Europa, dem Serbien ja beitreten will, sind unüberhörbar. Und das ist gut so und sollte keinen Anlass zu kultureller Hochnäsigkeit geben.

Leicht macht es Žebeljan dem deutschen Publikum nicht, auch wenn der Stoff des Stücks Berührungen zur Moses-Geschichte, zum glücksuchenden Faust und zum Schicksal des Ödipus aufweist und damit über serbische Landesgrenzen hinausweist. Verstörend wirkt allerdings die Mischung aus Heiligenlegende und Bauerntheater, aufgebaut als stereotypes Stationendrama, musikalisch von einem gewöhnungsbedürftigen Mix aus folkloristischen Elementen und expressiven Entladungen geprägt. All das wirkt ein wenig naiv und altbacken, auch wenn sich sowohl die Komponistin als auch Librettist Borislav Čičovački und Regisseur Michiel Dijkema um groteske Brechungen bemühen.

Die Handlung gilt in Serbien als so bekannt wie hierzulande der Faust. Simon, inzestuös gezeugt, wird als Bastard von seiner Mutter ausgesetzt und verliert trotz bitterer Erfahrungen nicht den Glauben an das Gute im Menschen. Auf seinem Lebens- und Leidensweg trifft er auf hartherzige Menschen in einem Kloster, einer Autowerkstatt, einer Ziegelei und einer Bäckerei, bis er die ältere Anna kennenlernt. Es kommt zu einer Liaison, bis Anna in Simon ihren ausgesetzten Sohn erkennt. Aus Verzweiflung zieht sich Simon als Eremit weitgehend von dem Menschen zurück, tut allerdings als Wunderheiler Gutes und erfährt eine geradezu apotheotische Verklärung.

Die skurrile Mischung aus hartem Realismus und religiöser Überhöhung hinterlässt gespaltene Eindrücke. Die Tonsprache Žebeljans und die brav aneinandergereihte Szenenfolge entsprechen nicht gerade dem, was heute als zeitgenössisches Musiktheater angesagt ist.

Regisseur und Bühnenbildner Dijkema versucht erst gar nicht, das dramaturgisch simpel gestrickte Werk modernistisch aufzupeppen. Die unzähligen Szenenwechsel nutzt er sogar bei geschlossenem Zwischenvorhang zu schnellen, aber nicht gerade geräuscharmen und letztlich störenden Umbauten. Bild folgt auf Bild. Und jedes präsentiert sich in einem geschickt minimierten semi-realistischen Outfit. Die Autowerkstatt ist mit echten Kraftfahrzeugen ausgestattet, die Ziegelei verströmt Fabrik-Ambiente, das Schlafzimmer Annas präsentiert sich in drückender Enge.

Überdrehte Auftritte wie der der drei missratenen Söhne eines alten Weibs, die Brutalität des Autohändlers oder die emotionalen Ausbrüche Annas nach der Identifizierung ihres Sohnes stehen in schroffem Kontrast zu den nazarenerhaft frömmelnden Schlussszenen, die die bis dahin einfache Erzählstruktur ins Mysteriöse überhöhen. Ein Bruch, der sich aus der Sicht eines deutschen Zuschauers nur mühsam nachvollziehen lässt und der sich szenisch deutlicher niederschlägt als in der Musik. Die ist vom ersten bis zum letzten Takt von schillernder Vielfalt geprägt, zersplittert, folkloristisch angehaucht, bisweilen nur asketisch dünn den von der serbischen Sprache geprägten Gesang unterstützend, bisweilen symphonisch expressiv aufbrausend. Eine homogene Handschrift lässt sich nur erahnen. Am stärksten überzeugt die Musik, wenn sich das Orchester mit einer folkloristischen Banda mischt. Einer fünfköpfigen Banda, bestehend aus bärtigen Herren in bunten Damentrachten, die wie eine Gauklertruppe einfallen und mit Klarinetten, Saxophonen, Akkordeon und Kontrabass für exotische Farbtupfer sorgen. Dass die grotesk agierenden Musiker an die Musikantentruppe aus Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Novelle Tod in Venedig erinnern, dürfte kein Zufall sein. Immerhin hat sich Thomas Mann in seinem Roman Der Erwählte mit dem Simon-Stoff auseinandergesetzt.

Auch wenn oder gerade weil das Klangbild so eklektisch zusammengekittet wirkt, haben Valtteri Rauhalammi und die Neue Philharmonie Westfalen knifflige rhythmische Herausforderungen zu bestehen. Aufgaben, die sie, aber auch das auf Serbisch singende Ensemble, auf hohem Niveau erfüllen. Piotr Prochera überzeugt mit seinem etwas rauen Bariton als rotschöpfiger Simon, wobei seine Rolle überwiegend passiv angelegt ist und wenig Gelegenheit zu großen Szenen bietet. Eine gewichtige dramaturgische Schwäche des Stücks. Extrovertierter angelegt ist die Partie der Anna, der Gudrun Pelker mehr als ausreichendes dramatisches Profil verleiht. Gar nicht hoch genug preisen darf man die geschlossene Ensembleleistung des Musiktheaters im Revier. Jede noch so kleine Partie, und davon gibt es fast 30, ist vorzüglich besetzt und lässt keinen Wunsch offen. Ob Dimitra Kalaitzi-Tilikidou aus dem Jungen Ensemble des Musiktheaters im Revier mit ihrem frischen Sopran als junge Anna und geheimnisvoller Vogel oder Jacoub Eisa als derber Automechaniker und erster Bäcker. Der Einbezug ganz junger Sänger in das schwierige Werk offenbart eine vorbildliche Ensemblepflege. Deshalb ein uneingeschränktes Kompliment an das vielköpfige Ensemble des Musiktheaters im Revier einschließlich des Chores und der Statisterie, die allesamt dem Werk eine angemessene Uraufführung bescheren.

Begeisterter Beifall für alle Beteiligten einschließlich der anwesenden Komponistin. Eine Reaktion, die keinerlei Verständnisprobleme mit dem fremdartigen Stück erkennen lässt.

Pedro Obiera

 





Fotos: Pedro Malinowski