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Fakten zur Aufführung 

ALBERT HERRING
(Benjamin Britten)
4. Mai 2014
(Premiere)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen


Points of Honor                      

Musik

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Abnabelung eines Außenseiters

Benjamin Brittens komische Oper Albert Herring zeigt schon seltsame Parallelen zur Zauberflöte. Sowohl Brittens Antiheld als auch Tamino aus Mozarts bekanntester Oper haben etwas gemeinsam: beide durchlaufen einen Initiationsritus. Doch während der eine sich in einer mit humanistischen Idealen und mit teils schwer zu dechiffrierenden Symbolen aufgeladenem Märchenwelt behaupten muss, erwischt es den anderen ungleich schwerer. Albert ist ein junger Mann aus Fleisch und Blut. Er ist ein Außenseiter, der unter der Bevormundung seiner Mutter leidet. Die vermeintliche Ehre, die ihm durch die stockkonservative Oberschicht des Provinznestes, in dem er lebt, zuteil wird, die Krönung zum Maikönig, ist im Kern eine Demütigung. Albert muss sich gegen die Welt, in der lebt, behaupten. Dass er sich schlussendlich der Trunkenheit, Schlägereien und ersten sexuellen Erfahrungen hingibt, ist sein Sieg über die Bigotterie einer krankhaft lustfeindlichen Gesellschaft, die in Brittens Oper wunderbar karikiert wird.

Die Stärke von Thomas Weber-Schallauers Inszenierung liegt in der subtilen Überspitzung, mit der die Figuren gezeichnet werden. Ob es daran liegt, dass der Regisseur seit mehr als zehn Jahren mit der Bremer Shakespeare Company zusammenarbeitet, dass der Humor der Inszenierung irgendwie britisch wirkt? Die von Gastsängerin Karen Fergusson dargestellte Lady Billows wirkt, als ob man sie aus einem Miss-Marple-Film abgeholt hätte. In das naturalistisch wirkende, von Britta Tönne geschaffene Bühnenbild sind absurde Details wie der ein Hirschgeweih als Jagdtrophäe an der Wand von Lady Billows’ Anwesen ersetzenden Seelöwenkopf integriert. Auch an Martina Feldmanns Kostüme lässt sich dieser Kniff ablesen: Alles wirkt echt britisch (wenn auch aus vergangener Zeit), und dann taucht Lady Billows während der Suche nach dem verschwundenen Albert im Sherlock-Holmes-Kostüm mit übergroßer Lupe auf.

Den größten Anteil an einem kurzweiligen Opernabend hat das Ensemble. Karen Fergussen verkörpert Lady Billows als moralische Instanz mit übertriebener Würde, humorlosem und ernstem Gesichtsausdruck, dass es eine Freude ist. Mit klarer, gravitätischer Stimme weiß sie auch gesanglich zu überzeugen. Hongjae Lim zeigt zum wiederholtem Mal eine große Leistung am MiR. Als Albert Herring singt der junge Tenor nicht nur makellos und, wenn es sein muss, durchsetzungsstark, sondern beweist auch darstellerisches Können, gerade dann, wenn er durch leicht gebeugte Körperhaltung und tristem Gesichtsausdruck die Niedergeschlagenheit und Traurigkeit dieser Figur, die sich erst zum Schluss von ihren Hemmungen emanzipiert, verkörpern muss. Almuth Herbst, Alfia Kamalova Piotr Prochera, William Saetre und Dong-Won Seo zeigen als die Honoratioren ebenfalls durchweg gute Leistungen. Es ist ihr gut aufeinander abgestimmtes Ensemblespiel, dass die Gesellschaft des Handlungsortes erst lebendig macht, und ihr Kuschen vor Lady Billows, dass dieser erst die notwendige Autorität verleiht. Anke Sieloff und Michael Dahmen als junges Liebesjahr Sid und Nancy überzeugen mit federleichtem Gesang und viel Schwung. Noriko Ogawa-Yatake als herrische Übermutter Herring sowie Jasmin Dommen, Betty Garcés und Eva Nikolaus als freche Dorfjugendliche runden die durchweg gute Ensembleleistung ab.

Unter der Leitung von Valtteri Rauhalammi entwickelt die Neue Philharmonie Westfalen einen frischen Klang, der die Komik der Handlung vorantreibt. Noch vor Beginn der Premiere verteilen Musiker des größten Landesorchesters Nordrhein-Westfalens Handzettel, auf denen sie gegen die Abkoppelung des Orchesters vom Flächentarifvertrag protestieren. Sie fühlen sich als Arbeitnehmer zweiter Klasse. Musikalische Leistungen wie an diesem Abend sollten die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung noch einmal daran erinnern, wie viel ihnen ein gutes Orchester wert ist.

Dem Publikum gefällt dieser Albert Herring, auch wenn der Applaus in Gelsenkirchen bei anderen Premieren schon euphorischer ausgefallen ist. Abzüge gibt es für mindestens ein halbes Dutzend Besucher, die es nicht unterlassen können, sich während der laufenden Vorstellung zu unterhalten. Dieses permanente Gequatsche ist nicht nur für den überwiegenden Teil des Publikums, das bei seinem Kunstgenuss gestört wird, ärgerlich, sondern zeugt auch von Respektlosigkeit gegenüber dem Orchester und dem Ensemble.

Sascha Ruczinski





Fotos: Pedro Malinowski