Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

DAS MÄDCHEN MIT DEN
SCHWEFELHÖLZERN

(Helmut Lachenmann)
20. September 2015
(Premiere am 18. September 2015)

Oper Frankfurt


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Meditation mit Meerschweinchen

Die Frankfurter Oper hat nicht nur eine der bedeutendsten zeitgenössischen Opern, wenn der Gattungsbegriff denn hier richtig erscheint, in einer Neuproduktion zu Saisonbeginn auf die Bühne gebracht, sondern gleichzeitig den Komponisten Helmut Lachenmann in seinem nunmehr 80. Lebensjahr als Sprecher in die Aufführung integriert.

Lachenmann hat sich mit der Oper, die ein Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper ist und dort am 26. Januar 1997 uraufgeführt  wurde, über 20 Jahre auseinander gesetzt. Intensive Arbeitsphasen wechselten mit Zeiten des Zweifelns und der Absicht, den Auftrag zurückzugeben. Als nach weit vorangeschrittenem Arbeitsstand die Partiturskizzen in Italien aus dem Auto des Komponisten gestohlen wurden, war dieser in der ersten, spontanen Reaktion zunächst erleichtert über den Wegfall der Bürde, das Opus vollenden zu müssen. Aber die Noten fanden sich wieder an und der Schaffensprozess wurde fortgesetzt und beendet.

Das Werk wurde in den vergangenen Jahren an verschiedenen Häusern aufgeführt, aber der Regisseur dieser Produktion, Benedikt von Peter, hatte es nicht leicht: er musste zehn Jahre für sein Konzept  werben, bis endlich jetzt die Oper Frankfurt das Werk in seiner Interpretation umsetzt.

Lachenmann greift das Märchen von Andersen Das Mädchen mit den Schwefelhölzern auf und setzt die wesentlichen inhaltlichen Elemente in einer eigenen Ton- und Lautsprache um, die den traditionellen Orchesterapparat um viele Klang- und Geräuschelemente erweitert und auch die Stimmen sowohl der Solisten als auch  des Chores mit einer neuen Klangsprache ausstattet. Dieser neue Klangorbit ist so beredt, dass er seine eigenen Bilder in sich und aus sich heraus vermittelt und einer szenischen Umsetzung eigentlich nicht bedarf, oder deren Existenz eine Relativierung der Musik riskiert.

Zur Umsetzung dieser Klangsprache gehört auch die Anordnung des Orchesters im gesamten Raum – eine Bedingung, die die Regie konzeptionell noch verstärkt, indem Sie das „Kernorchester“ auf einem erhöhten Podest der Bühne platziert, weitere wesentliche Teile im ersten und zweiten Rang, die Sänger an wechselnden Stellen im Bühnen- und Zuschauerraum sowie die Theaterbesucher teilweise auch auf der Bühne platziert, so dass alle traditionellen Elemente und Wirkungsbeschränkungen der Guckkastenbühne und des Rangtheaters aufgehoben sind. Die Aufführung hätte auch in einem Straßenbahndepot, einem Fabrikloft oder einem E-Werk stattfinden können.

Die inhaltliche und politische Fokussierung des Werkes liegt auf der empathischen Vermittlung des Leidens an der Kälte und Gleichgültigkeit der bürgerlichen  Gesellschaft als Täter und Opfer, auch versinnbildlicht durch die Einbeziehung von Zitaten aus Briefen Gudrun Ensslins, die Lachenmann aus Kinderzeiten im Heimatort kannte. Hinzu kommen Texte von Leonardo da Vinci, in denen die ewige, geheimnisvolle, Gefahr bringende und doch vom Menschen immer wieder betriebene Suche nach dem Neuen und der Geborgenheit thematisiert werden.

Dabei gibt es keine traditionelle Dramaturgie, keine handelnden Figuren. Personen der Handlung stehen für Zustände und vielschichtige Metaphern. Wie kann man nun eine solche „Nicht-Handlung“ oder die musikalisch bezwingende Bildhaftigkeit der Komposition inszenatorisch umsetzen, ohne die Ausdruckselemente zu doppeln oder anderweitig potenziell die Wirkungsmacht der Musik zu relativieren? 

Die Kernidee dazu, also das kreative Zentrum der Produktion ist unvorstellbar und schwer zu beschreiben, wenn man sie zunächst hört und sieht. Dem Schauspieler Michael Mendl gelingt durch ein gestisch-mimisches, körperliches Spiel mit einem Meerschweinchen die Darstellung von menschlicher Empathie mit dem Kreatürlichen in einer Parallelaktion über den gesamten Verlauf der fast zweistündigen Aufführung. Dargestellt wird ein Sich-Einfühlen in das Schicksal des Mädchens oder des Menschlichen auf einer anderen, nicht doppelnden Ebene. Ein genialer Wurf des Regisseurs und eine großartige Umsetzung des Schauspielers. Es gelingt eine überhöhende und konzentrierte  Übertragung dieses Kernelements auf den Zuschauer, der so eine Möglichkeit zur Wahrnehmung der selbst verantworteten Verhältnisse erhält.

Helmut Lachenmann spricht selbst in einer verfremdenden, lautmalerischen Sprache die Leonardo-Texte. Sein energisches, energiegeladenes Mitwirken verschafft der Aufführung eine besondere Authentizität.

Die Sänger, insbesondere die Soprane Christine Graham und Yuko Kakuta erfüllen alle Bedingungen der schwierigen Partien bravourös, dabei wird nicht nur die Dimension des Singens durch Lautmalereien, Schnalzen, Sprechen erweitert, zusätzlich gehen und klettern beide Sängerinnen durchgehend im Bühnenraum, auf Leitern, an den Rändern des Zuschauerraums entlang, was die Balance untereinander und mit dem Orchester erschwert. Besondere Leistung erbringen auch die Mitglieder des Chors vom ChorWerk Ruhr unter der Einstudierung von Michael Alber. Das Ensemble hatte bereits in einer vorangegangenen Produktion des Werkes unter einem anderen Leitungsteam in Bochum mitgewirkt.

Das über viele Orte und Ebenen platzierte Orchester liefert eine Meisterleistung der Konzentration und des filigranen, sensiblen Zusammenspiels. Eine wichtige Rolle gegen Ende des Werkes spielt das Spiel der Sho, einer japanischen Mundorgel, das Elemente der fernöstlichen Meditation einbringt und den Übergang zu einer dramaturgisch angestrebten Stille am Ende markiert, eindrucksvoll gespielt von Mayumi Miyata. Ein besonders diffiziler und gelungener Beitrag besteht in der Live-Elektronik, die von Felix Dreher verantwortet wird. Die musikalische Gesamtleitung verantwortet Erik Nielsen überzeugend.

Der Saisonauftakt in Frankfurt könnte nicht besser gelingen: Ein starkes Bekenntnis zum zeitgenössischen deutschen Musiktheater.

Das Publikum löst sich erst langsam aus der Faszination des stillen Endes und applaudiert dann einhellig allen Beteiligten herzlich mit steigender Lautstärke und Bravorufen. Besonders starken Beifall erhält Helmut Lachenmann. Der Komponist strahlt vor Freude angesichts des einstimmigen Beifalls und verweist immer wieder in Dankbarkeit auf das gesamte Team der Aufführung. 

Achim Dombrowski

Fotos: Monika Rittershaus