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Fakten zur Aufführung 

INTO THE LITTLE HILL
(George Benjamin)
1. November 2014
(Premiere)

Aalto-Theater Essen, Casa


Points of Honor                      

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Rattenfänger so oder so

Diese überdimensionale Ratte sieht fast wie ein Kuscheltier aus, aber keiner möchte es mit in sein Bett nehmen. Es repräsentiert viele Formen von „Ratten“, von Rattenplagen – den schneidigen Firmensanierer, den Kredithai, den Mauterfinder, eine grenzenlose Krankheitsepidemie – aber auch den ehrgeizigen, gelackten Minister, der seinen Bürgern gestenreich verspricht, sie endlich von der bedrohlichen Rattenplage zu befreien. Und die Bürger stimmen dem Deal gern zu, den eine krakelige Kinderhand an die Mauer schreibt: Kill and you have our vote! Hier wird um Macht gefeilscht.

Konkreter wird die lyrische Erzählung von Martin Crimp selten, sie bewegt sich im Surrealen. Dadurch löst sie sich leichtfüßig von der Grimmschen Vorlage und kann sich assoziativ frei bewegen. Sie zieht den aalglatten Minister ebenso heran wie Mutter und Tochter, die Teil des Deals mit dem Fremden, dem Rattenfänger werden. Die Figuren, von Marieke Steenhoek und Helena Rasker, Alt, minimalistisch hervorragend präsentiert, nehmen darstellerisch wie stimmlich diesen surrealistischen Zugang auf. Marieke Steenhoek spielt mit spitz-hartem Sopran einen sympathisch undurchsichtigen Fremden und Rattenfänger, Helena Rasker verleiht der Ministerfigur leicht statuarische Züge. Andreas Jander und Anne Koltermann geben ihnen eine eher formale Schwarzweiß-Ausstattung, sieht man von dem gestreiften Outfit des Fremden, des Rattenfängers ab, den Steenhoek herrlich skurril bringt. Das Orchester, in einem runden Gitterkäfig als „Musik“ gesellschaftlich ausgegrenzt, kommt auf weichen, leisen Sohlen in Socken daher, genau wie ihr Dirigent Manuel Nawri. Der sehr modernen, fast abstrakten Musik George Benjamins, dessen Into the Little Hill 2006 uraufgeführt wurde, sind schmeichelnde Harmonien und wohl klingende Tonpassagen fremd, sie verlangt vom Dirigenten und dem Ensemble große Präzision und rhythmische Genauigkeit. Dem fügen die Essener eine belebende Spielfreude hinzu.

Die lyrischen Texte rund um das Leben „im Schatten des kleinen Hügels“ lassen sich nicht alle entschlüsseln. Der Minister ist vorsichtig: „Wir akzeptieren jede Religion, denn wir glauben – voller Klugheit – an nichts.“ Im Feilschen mit dem Minister um seinen Lohn deutet der Fremde auf die Wirkung seiner Musik, der Minister: „Musik an sich ist nebensächlich“. Für den Zuschauer bleiben viele Bezüge rätselhaft, seiner eigenen Interpretation überlassen – märchenhaft.

Im gekonnten Zusammenspiel des Ensembles und der beiden Darsteller entwickelt sich die lyrische Erzählung, der textlich zu folgen nicht immer leicht ist, zu einem überraschend passgenauen und spannenden Abend, an dem viel neue Musik die Zuhörer neugierig macht auf mehr. Sie erleben eine Version des Rattenfängers, der Assoziationen zu Hameln vergessen lässt und als Figur zu erkennen ist, die hinter jedem kleinen Hügel anzutreffen ist. Kay Link inszeniert eine gelungene Modernisierung ohne Kraftakt und Verbiegung.

Das sieht auch das Premierenpublikum im kleinen Saal des Casa so. Diese Besucher des Festivals für neue Musik Parallelwelten der Philharmonie Essen sind für Experimente mit neuen musikalischen und ästhetischen Ausdrucksformen aufgeschlossen, neugierig darauf. Sie bedanken sich bei den Darstellern, Musikern und dem Regieteam mit lang anhaltendem, herzlichem Beifall. Sie haben einen neuen Akzent zeitgenössischer Musik kennen gelernt, mit dem zu beschäftigen sich lohnt.

Horst Dichanz

Fotos: Thilo Beu