Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

DE MATERIE
(Louis Andriessen)
15. August 2014
(Premiere)

Ruhrtriennale, Gebläsehalle Duisburg


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Eine Welt in Fragmenten

De Materie ist ein fetter Brocken Musiktheater, dessen geballte Wirkungskraft sich vor allem aus dem Orchestralen speist. Uraufgeführt 1989 unter Reinbert de Leeuw und Robert Wilson im 1986 eröffneten Neubau des Amsterdamer Het Muziektheater gehört es wie Luigi Nonos Prometeo zu den Werken, die die Gattung Oper von Grund auf hinterfragen und neu konzipieren. Die konventionelle Orchesterstruktur wird durch Instrumentengruppen ersetzt, eine kontinuierliche Handlung wird zugunsten von abstrakten Themen aufgegeben, Chor und Solisten bekommen eine dokumentarische Funktion, die eine mitfühlende oder eine auf Identifikation basierende Rezeptionshaltung unterbindet. De Materie ist mit einem großen Orchesterapparat ausgestattet, der schwerpunktmäßig aus Bläsern besteht, kombiniert mit einer imposanten Schlagwerkgruppe, mit Flügeln, Synthesizern, E-Gitarren und einer vergleichsweise kleinen Streicherfraktion. Das Werk ist besetzt mit Sopran, Tenor, Sprecherin und acht Choristen. De Materie ist in vier etwa 25-minütige Kapitel gegliedert, die sich auf unterschiedliche Art mit dem Verhältnis von Geist und Materie auseinander setzen. Andriessen geht von dem marxistischen Grundsatz aus, wonach das materielle Sein das Bewusstsein bestimme, will aber „anhand von Beispielen zeigen, dass das Ganze komplizierter sei, als Marx dachte“. Dem ersten Teil liegen unverbunden Texte zugrunde, die aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen, einer Hochphase der niederländischen Geschichte, dem sogenannten Goldenen Zeitalter. Andriessen collagiert den Text der Niederländischen Unabhängigkeitserklärung mit einer detaillierten Anleitung zum Schiffbau, so verweisend auf die erfolgreiche Seehandelsnation, dem Zentrum der niederländischen Wirtschaft, sowie einem physikalisch-theoretischen Text des Philosophen Gorlaeus über das Atom als kleinstem Teil der Materie, eine Theorie, die damals als häretisch aufgefasst wurde. Der zweite Teil führt ins Mittelalter: Andriessen vertont in einem langen Sopransolo die Siebte Vision der flämischen Mystikerin Hadewijch, die vom Spannungsverhältnis von körperlicher Lust und religiöser Enthaltsamkeit berichtet. Im dritten Teil der Zeitreise geht es zur niederländischen De Stijl-Bewegung, gegründet von Theo van Doesburg 1917. Textgrundlage sind Teile eines Manifestes zur konstruktiven Malerei über das Verhältnis von Kreuzform und abstrakter Kunst sowie Erinnerungen an Piet Mondrian, dem bildnerischen Hauptvertreter der Bewegung. Dessen Vorliebe für den Boogie Woogie liefert Andriessen musikalisch herrliche Möglichkeiten für einen Crossover von High and Low. Der vierte Teil wechselt mit der Naturwissenschaftlerin Marie Curie zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Andriessen zitiert die Tagebuchnotizen an ihren verstorbenen Mann und Mitarbeiter Pierre sowie Auszüge aus ihrer Nobelpreisrede – Nobelpreise erhielt Curie 1903 und 1911 für die Entdeckung von Polonium und Radium – womit Andriessen zugleich den Bezug zum ersten Teil herstellt, zur Atomtheorie des Gorlaeus. Allen vier Teilen ist gemeinsam, dass sie durch die Hervorhebung von Einzelbiografien die Dialektik von Individuum und Materie, Individuum und Geschichte aufscheinen lassen. Musikalisch betrachtet ist es gleichfalls eine Reise durch Epochen und Stile der Musikgeschichte. Anklänge an Renaissancekompositionen, an Bach, Strawinsky, an Andriessens Vater, den einflussreichen Komponisten und Dirgenten Hendrik Andriessen, an den Jazz der roaring twenties bis hin zur amerikanischen minimal music bilden den musikalischen Horizont des Werkes. Die Klanggestalt ist sehr variabel. Heftige und energische, partiell geradezu brutale und laute Klangausbrüche wechseln mit verhalten lyrischen Passagen im Hadewijch-Teil oder am langsamen Beginn des vierten Teils. Eine Grundkonstante sind die messerscharfen Bläserattacken. All das wird vom Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Peter Rundel mit atemberaubener Wucht, größter Präzision und auch mit hoher Delikatesse in Szene gesetzt, Orchester und Dirigent sind ohne Zweifel die Stars des Abends.

Heiner Goebbels inszeniert das Stück nicht mit den überbordenden, den Betrachter vielfältig überwältigenden filmbestimmten Mitteln, mit denen Peter Greenaway Louis Andriessens weitere Werke für das Musiktheater in Amsterdam ausgestattet hat – Rosa, A horse drama und Writing to Vermeer. In bewusster Abgrenzung erfindet er zusammen mit seinem Bühnenbildner und Lichtdesigner Klaus Grünberg für jeden der vier Teile zurückhaltende, aber dennoch festspielwürdig arrangierte Tableaux vivants, die Goebbels „Parallelbilder“ nennt. Sie sind allein durch ein einziges szenisches Element miteinander verbunden, einem hell erleuchteten, durch die Weiten des Raumes schwebenden Miniaturzeppelin. Mit der Wahl der Kraftzentrale im Landschaftspark Nord in Duisburg hat Goebbels einen Raum gewählt, dessen Bühnentiefe von 160 Metern und einer Breite von geschätzt 40 Metern eine ungeheure Tiefenwirkung erzielt. Im ersten Tableau sehen wir eine aus sechs fahl beleuchteten Zelten bestehende Szenerie, die von drei Zeppelinen überflogen wird. Der Chor, Mitglieder des ChorWerk Ruhr, sowie Robin Tritschler als Gorlaeus agieren in historischen Kostümen von den seitlichen Brüstungen der Halle. Das zweite Tableau zeigt Hadewijch in einem Kirchenschiff nach dem Vorbild der Kathedrale von Reims. Evgeniya Sotnikova singt die Rolle der Hadewijch mit hellklarem und leuchtendem Sopran – und zwar so grandios und berührend, das die Szene fast schon eine Antithese zum Theaterkonzept darstellt. Das dritte Tableau wird von drei riesigen kinetischen Objekten und zwei Tänzern bestimmt, während im vierten Teil zuerst „100 Schafe aus dem Raum Düsseldorf“ blökend die Szene bestimmen, ein lebendiges Naturidyll, bevor Goebbels ein Foto der Solvay-Konferenz für Physik und Chemie in Brüssel aus dem Jahre 1911 mit vielen Statisten in ein lebendiges Tableau als Auftrittsort für Marie Curie übersetzt. Die Rolle der Curie spricht Catherine Milliken. In allen vier Bildern findet Goebbels Möglichkeiten für Projektionen der Übersetzungen der Texte, so dass man auch inhaltlich immer auf der Höhe des Werkes bleibt.

Das Publikum reagiert mit einhelliger und großer Begeisterung, eine Seltenheit für eine Produktion des zeitgenössischen Musiktheaters und sicherlich auch ein Zeichen für die jahrelange Überzeugungs- und Bildungsarbeit der Ruhrtriennale unter ihren bisherigen Intendanzen. Ein überwältigender Jubel gilt zuerst dem Ensemble Modern Orchestra unter dem Dirigenten Peter Rundel, den Solisten, dem ChorWerk Ruhr sowie dem gesamten Inszenierungsteam der Ruhrtriennale unter Heiner Goebbels. Nicht zuletzt aber auch dem dieser deutschen Erstaufführung beiwohnenden Komponisten Louis Andriessen, der gerade 75 Jahre alt geworden ist. Ein geglückteres Geburtstagsgeschenk kann es nicht geben.

Dirk Ufermann

Fotos:
Wonge Bergmann/Ruhrtriennale 2012