Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

RECORDING FIELDS
(Gaëlle Bourges, Anna Piotrowska, Alexandra Waierstall)
24. Oktober 2014
(Uraufführung)

Tanzhaus NRW


Points of Honor                      

Musik

Tanz

Choreografie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Europa lebt

Verfolgt man die Nachrichten in den öffentlich-rechtlichen Sendern regelmäßig, muss man die Überzeugung gewinnen, dass Europa eigentlich vor dem Aus steht. So viele Krisen, so viele kulturelle Unterschiede, so viel Eigenbrötlerei kann kein Staatenbund auf Dauer überstehen. Schaut man allerdings abseits der „offiziellen“ Berichterstattung, was in Europa alles möglich ist, macht das Mut. Ein gutes Beispiel ist das Weimarer Dreieck, das vom damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinen Kollegen auf polnischer und französischer Seite, Krzysztof Skubiszewski und Roland Dumas, initiiert wurde. Es stellte sich zur Aufgabe, Projekte auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene zu verwirklichen. Und so entstand eine Initiative zwischen Bytom in Schlesien, Roubaix in Nord-Pas de Calais und Düsseldorf in Nordrhein-Westfalen. Drei Städte, die einer ähnlichen Situation ausgesetzt waren und sind. Sie liegen in Industrieregionen, die einen grundlegenden Strukturwandel erfahren. Gemeinsam haben sie, dass sie über eine hohe Bevölkerungsdichte, eine lebendige kulturelle Szene und eine interessante Tanzlandschaft verfügen.

Da liegt ein gemeinsames Tanzprojekt sozusagen auf der Hand. Mit anderen Worten: Es gibt Geld. Und zwar für die Choreografinnen Gaëlle Bourges, Anna Piotrowska, Alexandra Waierstall und den Komponisten Jörg Ritzenhoff. Recording Fields ist geboren. Drei Stücke über die veränderten Strukturen in der Arbeitswelt sollen es werden, die Komposition Ritzenhoffs soll alles vereinen. Ritzenhoff reist nach Polen und Frankreich, um dort Aufnahmen – field recordings – der „alten Arbeitswelt“ festzuhalten. Eine gewisse Beliebigkeit war zu erwarten und stellt sich auch ein. Bourges, Piotrowska und Waierstall begeben sich ebenfalls auf die intensive Suche nach der Arbeitswelt in ihren Regionen. Und finden zu ganz eigenen Ergebnissen.

Die Uraufführung des Gemeinschaftsprojekts leidet unter Einführungsreden von Intendanz, Politikerin und Dramaturgin. Vollkommen überflüssig. Dafür gibt es für die Unermüdlichen Einführungsveranstaltungen. Ein Blick auf die Vorderseite des „Abendzettels“ zeigt Denkwürdiges. Da ist neben den Mitwirkenden explizit die Finanzierung der Aufführung aufgeführt. Erst auf der Rückseite gibt es Inhaltliches. Da stellt sich die Frage, ob die Prioritäten noch richtig gesetzt sind.

Endlich darf Piotrowska zeigen, was sie aus der Montanregion Bytom erfahren hat. Fünf Tänzerinnen und Tänzer braucht sie dazu. Der Bühnenraum im großen Saal ist leer, die Seitenbühnen sind geräumt. An der Rückwand sind Neonlichter aufgereiht, vor denen die Tänzer sich an der Mauer echauffieren, endlich lösen, um schließlich wieder dahin zurück zu kehren. Das ist eindeutig die schwächste Leistung des Abends. Ritzenhoff spielt dazu seine Aufnahmen ein, ohne dass es irgendeine über den heutigen Tag hinaus reichende Bedeutung hätte. Wenn in der Tanzwelt die Rückkehr der Musik bejubelt wird, auch im zeitgenössischen Sektor, braucht es dazu ein wenig mehr als monotone Geräuschcollagen, das Publikum zu begeistern.

Waierstall bemüht sich da um mehr Originalität. Sie hat ein Solo ihrer Tänzerin Evangelia Randou angekündigt. Die tritt mit einer silberfarbenen Plane auf und breitet sie unter hinunter- und herauffahrenden Scheinwerfern zu den Geräuschen Ritzenhoffs aus, die leider nicht passgenau erfolgen. Weitaus beeindruckender allerdings ist die Körpersprache, die Choreografin und Tänzerin entwickeln. Ob man daraus wirklich erkennen kann, welche Folgen die Arbeit im Privatbereich bewirkt, mag dahin gestellt sein. Was Waierstall allerdings abliefert, ist eine Choreografie vom Feinsten. Randou tanzt die Langsamkeit in überwältigenden Momenten. Dabei überzeugen gleichermaßen die choreografischen Einfälle wie Akrobatik und Kondition, die Randou zeigt. Für diese 20 Minuten lohnt es sich, den Abend in Kauf zu nehmen.

Bourges kreiiert eine bislang nicht gekannte Choreografie. Unter ihrer Ägide entsteht ein Hör-Tanz-Spiel, mit dem sie die Textilindustrie in Roubaix vorstellt. Da werden Garnrollen auf der weiterhin vollständig geöffneten Bühne im Hintergrund drapiert. Agnès Butet, Camille Gerbeau und die Choreografin selbst bewegen sich in sich häufig wiederholenden Figuren, die Leichtigkeit und Humor andeuten, in den Kitteln der Textilarbeiterinnen. Dazu eröffnet Bourges einen gesprochenen Exkurs über die neoliberale oder turbokapitalistische Entwicklung der Weltgesellschaft in deutscher Sprache, während der englische Text auf die Bühnenrückwand projiziert wird und später eine zweite Stimme den Inhalt auf Französisch etwas leiser wiedergibt. Nach dieser Einleitung wird der Besuch von Queen Elizabeth in Roubaix 1959 auf der Grundlage von Zeitungsberichten erzählt. Die eigentlich profane Geschichte ist so interessant wiedergegeben, dass die Tänzer, die den Besuch „visualisieren“, immer wieder aus dem Blickfeld geraten. Dass die Geschichte nicht gut ausgehen kann, ist eigentlich zu erwarten und tritt auch so ein. Die gute Nachricht: Queen Elizabeth lebt noch. Die schlechte Nachricht: die Textilindustrie nicht mehr. Stattdessen verlieren die Arbeiterinnen ihre Anstellung und damit die Tänzer ihre Kittel, ohne dass der vielfach beschworene Strukturwandel eintritt. Dass die Tänzer nackt, vulgo perspektivlos, aber dennoch hoch erhobenen Hauptes die Bühne verlassen, irritiert. Kann der Mensch, solchermaßen entblößt und seiner Existenzgrundlage beraubt, tatsächlich noch eine Würde bewahren? Bourges sieht es offenbar so und schafft damit Diskussionsbedarf. Bravo.

Das Publikum im gut besuchten Saal applaudiert herzlich, aber kurz. Da bleibt zu hoffen, dass das Nach-denken über die Inhalte dieses Abends – und nicht die Fördermöglichkeiten – länger anhält.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Vanessa Leißring