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Fakten zur Aufführung 

ORPHEUS IN DER OBERWELT
- EINE SCHLEPPEROPER

(andcompany&Co.)
30. Januar 2015
(Premiere)

Forum Freies Theater Düsseldorf, Kasernenstraße


Points of Honor                      

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Europa verliert schon wieder

Millionen Menschen aus Kriegsgebieten sind auf der Flucht. Und Europa macht die Außengrenzen dicht. Dafür wird 2004 eine Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen ins Leben gerufen. Aus dem Französischen frontières extérieures leitet sich der Name der Agentur ab: Frontex. Offiziell soll sie der Kriminalitätsbekämpfung an den Grenzen dienen. Frontex ist also eine Erfüllungsorganisation des politischen Willens der EU, nicht mehr. Und die EU-Politiker haben auf die Flüchtlingsfrage keine andere Antwort, als die imaginären Grenzen zu schließen. In der Folge wird das Mittelmeer zum größten, bekannten Massengrab der Welt. Erst auf öffentlichen Druck hin wird Frontex im vergangenen Jahr auf die Seenotrettung verpflichtet und darf Einwandererboote nicht mehr abdrängen oder zur Umkehr aufs offene Meer zwingen. Zehntausende von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Europa sind möglich, weil vollkommen unfähige Machtpolitiker technokratisch auf Menschen in Not reagieren, mal wieder ein Vokabular verwenden, das unseren Kindern Übelkeit im Magen bereiten wird – von Migrationsmanagement ist da die Rede – und die Medien mehrheitlich Angstszenarios über drohende Überfremdung durch Flüchtlinge verbreiten, anstatt darüber zu berichten, dass Frontex im Auftrag von EU-Politikern tausende von Menschen in den Tod schickt. Bis heute gibt es keine Gerichtsbarkeit, die diese Verbrechen verfolgt. Und bis heute ist kein Politiker und keine Politikerin zur Verantwortung gezogen worden, weil er oder sie dafür gesorgt haben, dass Menschen ob ihrer Entscheidung massenhaft gestorben sind.

Das historisch Dramatische daran: Menschen aus ganz Europa mussten vor ein paar Jahrzehnten aus ihren Heimatländern fliehen, um zu überleben. In Europa blutete auf diese Weise eine ganze Generation Kulturschaffender aus. Die in anderen Ländern aufgenommen wurden. In diesen Tagen muss man sich schämen, Europäer zu sein.

Das Künstlerkollektiv andcompany&Co. ist wütend. Es empört sich. Und es macht das, wofür Theater zuständig ist: Es bringt das Stück Orpheus in der Oberwelt: Eine Schlepperoper auf die Bühne, das mit künstlerischen Mitteln auf den unsäglichen Umgang mit Menschen in der Not aufmerksam macht. Der Begriff der Oper ist unangebracht, eher möchte man von epischem Musiktheater im Brechtschen Sinne sprechen, aber geschenkt. Vom ersten Augenblick an packt die Inszenierung der Regisseure Nicola Nord, Alexander Karschnia und Sascha Sulimma. In etwas mehr als einer Stunde lassen sie das Publikum kaum zu Atem kommen, sorgen mit maximaler Beweglichkeit und klugem Mitteleinsatz für Spannung und Aufmerksamkeit. Jan Brokof, João Loureiro „& Co.“ bereiten die Bühne: Links ein Mischpult, im Hintergrund eine Rasterwand, die später Pappkarten aufnehmen wird, rechts drei Musiker und in der Mitte eine Felsengruppe. Herein marschieren die Aktivisten – Schlepper, die endlich mal auf die Sorgen und das „falsche Image“ ihrer Branche aufmerksam machen wollen. Der Spielort wird an den Grenzfluss Evros gelegt, jenes Gebiet, das zugleich Naturparadies und Mekka für Vogelkundler sowie militärisches Sperrgebiet mit meterhohen Zäunen und Minenfeldern ist. Der griechischen Mythologie zufolge trieb hier der vom Körper abgetrennte Kopf des Orpheus ans Ufer. Inmitten eines vogelkundlerischen Exkurses werden Fakten über Frontex und die Unmenschlichkeit Europas vorgetragen, verweisen Chöre auf elementare Grundrechte von Menschen und Bürgern sowie Einzelstimmen auf eine barocke Vergangenheit. Gregor Knüppel setzt die schnellen Szenenwechsel gekonnt in elementares Licht. So kommen die Kostüme, ebenfalls von Brokof und Loureiro, zur Geltung. Regenbogenfarbene Ganzkörperkondome, über die Regenzeug gestülpt wird. Ohne Worte ist man hier an stürmisches Wetter auf See erinnert. Und zugleich an Agitprop-Theater der 1980-er Jahre. Das assoziieren auch die Texte von Karschnia. Etwas mehr Stringenz hätte hier vollkommen gereicht, vielleicht das Dramatische noch gesteigert.

Ein striktes Rollengefüge gibt es nicht. Das erfordert Konzentration. Eröffnet wird der Reigen vom Bariton Bora Balci, der so sauber wie einfach singt, dass die Übertitel eigentlich überflüssig sind. Herrlich seine Turnschuhe, an denen Flügel angebracht sind. Countertenor Georg Bochow mag stimmlich nicht so recht überzeugen, genügt aber seiner Rolle vollkommen. Im Laufe des Spiels wird er jedenfalls deutlich besser. Komi Mizrajim Togbonou begeistert vor allem als Orpheus. Die Lobbyistin der Schlepper ist Claudia Splitt, die aus Marketingsicht eindeutig begeistert. Danach sind die Schlepper, Schleuser, Fluchthelfer, Vermittler nicht mehr die allein selig machenden Schuldigen an der Flüchtlingskatastrophe, sondern serviceorientierte Selbstständige, die sich selbst erheblichen Gefahren aussetzen – und dafür ihr Geld verdienen – um einen Markt zu bedienen. Irida Baglanea schließlich schildert die Fluchthilfe aus griechischer Sicht. Karschnia trägt die Texte überzeugend und hochprofessionell vor.

Die Musiker werden in die Handlung einbezogen. Sascha Sulimma fungiert als Souffleur, die übrigen Musiker müssen irgendwann mal alle ihre Position verlassen und mitspielen. So entsteht eine sinnliche Einheit. Simon Lenski entwickelt mit viel Spaß großartige Improvisationen auf dem Cello. Reinier van Houdt bedient grandios Synthesizer und Spinett. Die sicher interessanteste Instrumentensammlung hat Susanne Fröhlich zur Verfügung. Neben zahlreichen Blockflöten, wie wir sie mehr oder weniger in Form und Klang kennen, stehen ihr Neuentwicklungen von Herbert Paetzold und eine Sub-Bass-Blockflöte von Harald Kündgen zur Verfügung. Teils übermannshohe Instrumente, die nach Fröhlichs Angaben den neueren Klangentwicklungen der zeitgenössischen Musik gerecht werden. Eindrucksvoller aber als die Instrumente, von denen das eine oder andere schon mal eher grobkantig wirkt, ist die Virtuosität der Flötistin. Insgesamt entsteht ein Klanggefüge, das der zeitgenössischen Musik gut tut, weil es das Publikum anspricht, anstatt es zu fordern – oder zu überfordern.

Das FFT an der Kasernenstraße in Düsseldorf ist an diesem Abend komplett ausverkauft, tatsächlich bis auf den letzten Platz. Und das ist gut so. Denn trotz ein paar Ungereimtheiten ist Orpheus in der Oberwelt ein wichtiges, weil politisches und „trotzdem“ fesselndes Stück, von denen es eigentlich viel mehr geben müsste. Vielleicht geht von dieser Produktion Signalfunktion aus – der Frage nach der Existenzberechtigung des Theaters würde es sicher nicht schaden. Das Publikum ist nach Maßstäben des FFT schier begeistert. Das Publikumsgespräch im Anschluss ist überraschend gut besucht. Das lässt hoffen.

Michael S. Zerban







Fotos 1-3: Barbara Braun
Fotos 4-5: privat