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Fakten zur Aufführung 

NUIT BLANCHE A OUAGADOUGOU
(Serge Aimé Coulibaly)
19. Juni 2015
(Einmaliges Gastspiel)

Tanzhaus NRW, Düsseldorf


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1000 Euro reichen nicht

Burkina Faso, das Land der Aufrechten oder das Land der Unbestechlichen, je nach Übersetzungsquelle, ist vor allem ein stark politisiertes Land. „Wenn man in einem Land geboren ist und aufwächst, wo die politische Situation einen so großen Einfluss auf jeden kleinsten Bereich des Alltags hat, wird das Inszenieren zu einem politischen Akt“, befindet deshalb Serge Aimé Coulibaly, Choreograf und Ensemble-Chef des Faso Danse Theatre, das dem Tanzhaus NRW in Struktur und Zielsetzung nicht unähnlich ist.

Einen wesentlichen Unterschied gibt es dann doch. Während das Tanzhaus sich um Internationalisierung bemüht, ist Coulibaly wichtig, den zeitgenössischen Tanz Afrikas ohne europäische Einflüsse weiter zu entwickeln. Möglicherweise ist das eher dem Umstand geschuldet, dass ein Land und seine Einwohner erst mal zu sich selber finden müssen, ehe sie sich anderen Einflüssen öffnen. In keinem Fall bedeutet es, dass der Tänzer sich abschotten will.

Und so kann sich das Tanzhaus glücklich schätzen, eine außergewöhnliche Arbeit des Choreografen als letztes Gastspiel der Spielzeit zu präsentieren. Nuit Blanche a Ouagadougou wurde als Vorhersage eines Regime-Sturzes erstmalig im Oktober vergangenen Jahres aufgeführt, während ein Volksaufstand den Präsidenten Blaise Compaoré der Macht enthob. Ganz so visionär, wie es vielleicht klingt, war es nicht. Schließlich gehörte Smockey Bambara, der für Texte und Musik des Stückes verantwortlich zeichnet, zu den Anführern der Bürgerbewegung Le Balai Citoyen, die das Regime Compaorés zu Fall brachte.

Eine weiße Nacht – la nuit blanche – ist im Französischen zunächst nichts weiter als eine schlaflose Nacht, in Italien ist die notte bianca eine durchfeierte Nacht. In der weißen Nacht der Hauptstadt von Burkina Faso ist es beides. Wenn man Revolution als Feier begreift. Die abstrahierte und stark symbolisierte Handlung des Stückes findet auf dem Platz der Nation – „oder anderswo“ – statt. Und Rapper Bambara lässt keinen Zweifel offen, dass das, was da in Ouagadougou passierte, sich auch an jedem anderen Ort dieser Welt ereignen könnte. „So viel Platz, aber kein Platz für ein junges oder altes Publikum, alles Taugenichtse. Der Krümel soll bis zu den offenen Mäulern rollen, die sie verfluchen; leere Bäuche wie ein Köcher, der leider jegliche Spannung verloren hat.“ Der Text von Smockey hat es in sich, wie es sich für einen Rap gehört. Hier wird er gemäßigt vorgetragen, was die Musik angeht, die Radikalität findet auf der Kleinen Bühne statt, deren Tribüne bis auf den nahezu letzten Platz gefüllt ist. Während Bambara also eher als ruhiger Erzähler im langen Mantel auftritt, üben sich Serge Aimé Coulibaly, Adonie Nebie und Sayouba Sigue in kraftvoller, oftmals nicht direkt zu übersetzender Bewegungssprache, bisweilen ekstatisch, darin, die Geschehnisse der Revolution vorwegzunehmen. Babacar Sadikh Ndoye sitzt in Hut, Mantel und Sonnenbrille während der gesamten Aufführung scheinbar unbeweglich auf einem Stuhl in der hinteren, rechten Bühnenecke vor einem Bretterzaun, den man als Barrikade interpretieren könnte. Für das spartanische Bühnenbild und die symbolhaften Kostüme zeichnet Marie Szersnovicz verantwortlich. Seit der Premiere hat sich vor allem ein Kostüm verändert. Die helle Bekleidung von Marion Alzieu ist dunkler Bluse und Hose sowie einem hellblauen Rock gewichen – ob es sich um eine Verbesserung handelt, mag dahin gestellt sein. Spielt aber auch keine Rolle, denn Alzieu überzeugt nach wie vor mit grandiosem Einsatz.

„Wollt Ihr das System ficken? Aber das System hat einen zu großen Arsch, und Ihr habt wahrscheinlich nicht den passenden Schwanz! Dennoch, wenn Ihr ihn streichelt, wird er sich vielleicht öffnen … ein ganz kleines bisschen.“ Die Macht und Bildhaftigkeit der Musik spiegelt sich in den martialischen Bewegungsmustern von Alzieu wider. Mit jeder Bewegung gibt sie der Choreografie von Coulibaly Recht, die sich auf die politische Seite der Aufführung konzentriert. Im Lichtdesign von Hermann Coulibaly, der trotz großer Lichtaufbauten eher „vernünftiges“ Licht herstellt, exaltieren die Tänzer sich und entfesseln eine ganze Revolution. Von der erhobenen Faust zu Beginn einer großen Hoffnung bis zu den Kämpfen und Schlitzereien, die das Leben der Hoffnungslosen vulgo Revolutionären zu früh beenden, findet alles statt.

Das Publikum befindet, dass politisches Tanztheater nicht in den 1980-er Jahren beendet worden, sondern jetzt aktuell wie nie ist. „Um den Elan und den Kampfgeist eines Volkes zu brechen, braucht man keinesfalls Milliarden, tausend Euro reichen. Das ist der durchschnittliche Preis eines Sturmgewehres AK 47!“ Mit diesen Worten des Sängers Bambara endet dieser packende und vor allem wichtige Abend. Dem Tanzhaus sind mehr solcher Stücke zu wünschen. Dem Rapper strecken wir den Stinkefinger entgegen: Für die Solidarität braucht es keinen Euro, und mit Deinen tausend Euro wirst Du auf lange Sicht nichts erreichen. Nichts.

Michael S. Zerban

 

Fotos:
Delphine Boudon, Nicholas Meisel