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Fakten zur Aufführung 

LIFE HAPPENS IN THE KTCHEN!
(Shana Carroll, Sébastien Soldevilla)
9. September 2015
(Deutschlandpremiere)

Düsseldorf-Festival, Burgplatz


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Poetische Akrobatik

Spät fängt das 25. Düsseldorf-Festival an. Zu spät. Genau 20 Minuten zu spät. Als die Gäste des zuvor stattgefundenen Empfangs um 20.10 Uhr durch einen separaten Eingang den Aufführungsraum betreten, suchen sie in weinseliger Ruhe ihre Plätze auf. Gewiss, die Liste der Sponsoren ist lang beim Düsseldorf-Festival. Da kann man sich möglicherweise solche Dekadenz, oder doch eher Rücksichtslosigkeit gegenüber den übrigen Besuchern, erlauben. Die Artisten der Gruppe Cuisine & Confessions – Les 7 Doigts de la Main haben eine andere Einstellung und sind lange vor Vorstellungsbeginn auf der Bühne. So können sie dem pünktlich eingetroffenen Publikum mit allerlei kleinen Späßen die Zeit vertreiben.

Nach solch missratenem Auftakt fällt es manchem Zuschauer schwer, konzentriert in die Aufführung zu finden. Aber der kanadischen Truppe, die sich 2002 in Montreal gegründet hat und bereits zum dritten Mal zu Gast beim Festival ist, gelingt es rasch, das Publikum einzufangen und in eine ganz eigene Welt zu entführen. Life happens in the kitchen! heißt und ist das Programm, das Shana Carroll und Sébastien Soldeville entwickelt und inszeniert haben. Diesen ganz besonderen Lebensraum hat Ana Cappelluto sehr fantasievoll eingerichtet. Nach hinten schließt die Bühne mit einer überdimensionierten Küchenzeile ab, an die eine verschiebbare Leiter gelehnt ist, wie man sie aus Bibliotheken kennt. Hin und wieder wird aus der Küchenzeile ein übergroßer rechteckiger Küchentisch in die Bühnenmitte gezogen, der ein Sofa und einen weiteren rechteckigen Tisch enthält. Dazu gibt es einen Würfel, der, in seine Einzelteile zerlegt, zwei Sitzbänke und einen Tisch ergibt. Und es gibt diesen Würfel, den man in sieben Stühle zerlegen kann. Eine vertikale Akrobatikstange in der rechten Bühnenhälfte und ein Trockengerüst für Handtücher, das über der Bühnenmitte schwebt, vervollständigen eine Ausstattung, aus der sich nur jede erdenkliche Lebenssituation ableiten lässt.

Dass die Küche bei einer Party immer der schönste Ort ist, wissen wohl die meisten. Deshalb versammeln sich da ja immer alle. Aber macht man sich auch immer bewusst, was in der Küche sonst noch stattfindet? Dieser Ort mit seinen ach so typischen Düften, die sich schon Kindern einprägen und ihr späteres Leben bestimmen. Der runde Tisch, an dem verhandelt, gestritten, vergeben, gegessen, gebetet und erinnert wird. Das gemeinsame Essen, zu dem die Familie wenigstens einmal am Tag zusammenfindet oder zumindest früher zusammenfand, aber so oft auch der Essplatz, an dem man allein zurückbleibt. Ort des Erwachsenwerdens, der Sinnlichkeit, der großen Gefühle, aber auch des Scheiterns.

Mit großer Akrobatik, kleinen poetischen Gesten und authentischen Texten machen sich die zierlich-drahtige Héloise Bourgeois, Mishan Ferrero, der sich gleich mal unsterblich in eine Dame aus dem Publikum verliebt, Sidney Iking Bateman, der schier unglaubliche turnerische Leistungen erbringt, Melvin Diggs, der ihm in nichts nachsteht, und Matias Plaul mit seinen Todesstürzen daran, dem Publikum die ganze große, kleine Welt der Küche nahezubringen. Die im Wortsinn atemberaubenden akrobatischen Leistungen werden umso aufregender, weil immer wieder auch vergleichbar einfache Figuren misslingen. Was hier geboten wird, bekommt man nicht alle Tage zu sehen. Aber am Ende des Abends sind es nicht nur die Todessprünge von Gabriela Parigi, nicht allein die Klamauk-Szenen oder der zeitgenössische Tanz, sondern auch die Geschichten von Menschen, die nicht in der Küche sitzen. Nicht mehr in der Küche sitzen. Immer untermalt von passender Musik von Rock, Klezmer bis Bolero. Ach ja, und um Essen geht es auch. Um die Düfte, die Zubereitung von Köstlichkeiten, die so einfach herzustellen sind. In Italien kennt jedes Kind das Aroma der unvergleichlichen Tomatensoße, das jede Ritze in der Küche durchdringt und selbstverständlich von der Mama hergestellt ist. Beim Hinausgehen gibt es von der Bühne frisch gebackenes Bananenbrot und – Pasta.

Unverdient. Ein Publikum, das sich inzwischen immer mehr aufführt, wie das in den Fernsehstudios despektierlich bezeichnete Klatschvieh, also bei jeder Hebung eines Beins gleich in frenetischen Applaus verfällt, zerstört mit seiner Klatscherei jeden Anflug von Innerlichkeit, lässt nur noch oberflächliche Effekthascherei zu. Und gerade damit nimmt man diesem außergewöhnlichen Stück einen großen Teil seiner Wirkung.

Es gibt Folgevorstellungen. Gehen Sie hin! Sie werden etwas erleben, was Sie nicht mehr vergessen werden. Und sie werden es pünktlich erleben, weil die „wichtigen“ Menschen dann nicht mehr da sind. Sie werden den vielversprechenden Auftakt des Düsseldorf-Festivals genießen können – so ganz ohne Düsseldorfer Schicki-Micki.

Michael S. Zerban







Fotos: Alexandre Galliez