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Fakten zur Aufführung 

ES BRINGEN
(Verena Güntner)
2. Oktober 2015
(Uraufführung)

Junges Schauspielhaus Düsseldorf


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Das bringt's voll

16. Was für eine furchtbare Zahl. Welch entsetzliches Alter! Die Brechstange der Pubertät will die Tür zum Erwachsenwerden mit Gewalt aufbekommen. Du fühlst dich endlich stark genug, die Welt zu besiegen, aber die Welt schert sich einen Dreck um dich. Die Pickel schießen schneller ins Gesicht, als das ohnehin überschießende Testosteron produziert wird – und sie eitern alle. Nur aus dem Flaum auf der Oberlippe will und will kein Bart werden. Und wie sieht eine unbehaarte Hünenbrust aus? Richtig. Zum Heulen. Zwar geraten endlich die Gliedmaßen in die richtigen Proportionen, aber was nutzt dir das, wenn dein gesamtes soziales Umfeld aus den Fugen fliegt? Und dich sowieso schon lange keiner mehr versteht. Dich mit deinem ganzen Welt- und Herzschmerz. Wie gut, dass du noch nicht weißt, dass der Spuk zu allem Überfluss noch zwei oder drei Jahre andauern wird. Lass uns einfach nicht mehr drüber sprechen. Schön, dass es vorbei geht.

Und doch gibt es mit schöner Regelmäßigkeit Autoren, die sich mit genau diesem Lebensabschnitt beschäftigen. Verena Güntner ist jetzt wieder so eine, die sich dieses Themas annimmt. In ihrem Debütroman Es bringen schildert sie die schwierige, vielleicht schwierigste Phase im Leben von Luis. Zwar ist auch dieses Werk im längst klischeeüberfrachteten Sozialmilieu der entmenschlichten Hochhaussiedlungen angelegt, aber Luis ist nicht der übliche Verlierer. Er ist der Macher. Er ist „der Trainer und die Mannschaft“. Und er bekommt auch nicht die erste Liebe mitgeliefert, sondern muss die Ablösung von seiner Mutter erleben, die sich – was auch sonst? – nie um ihn gekümmert hat. Mit einer unnötig derben Ausdrucksweise, in der das Ficken inflationär oft vorkommt, lässt Güntner Luis all das erleben, was die Pubertät so schwierig macht. Das Ende bleibt angenehm positiv offen.

Karsten Dahlem hat sich des Stoffs angenommen, eine Bühnenfassung geschrieben und sie auch gleich für das Junge Schauspielhaus Düsseldorf inszeniert. Selbstverständlich wird auch hier viel Sex in Sprache ausgedrückt und szenisch angedeutet. Die Gewaltszenen dürfen da deutlich körperlicher ausfallen. So deutlich, dass bei den Zuschauerinnen ab 14 Jahren auch schon mal ein erschreckter Schrei laut wird. Das ist – wieder einmal – nicht zu Ende gedacht. Dafür gelingt Dahlem ansonsten eine schmissige und actionreiche Aufführung, in der die Personenführung das zu Tage fördert, was unter der Haut passiert. Und das ist allemal wichtiger als die paar Gags, die man getrost übergehen kann. Justyna Jaszczuk hat dazu eine ungewöhnlich einfallsreiche Bühne entworfen. Hier wird mit ganz kleinen Mitteln eine überwältigende Wirkung erzielt. Zwei Plattenelemente bilden Boden und Rückwand und sind zunächst mit weißer Plastikplane überzogen. Einer der stärksten Momente wird dann kommen, wenn Luis gleichsam einer Häutung die Plane von den Platten zieht. Am Bühnenrand rechts und links zwei Bänke, auf die sich die Protagonisten zum Kostümwechsel zurückziehen und ihre Requisiten lagern. Vor der Bodenplatte ein Miniaturpodest, von dem aus sich bevorzugt Luis direkt an das Publikum wendet. Fantasievoll und „milieuangepasst“ die Kostüme von Silvie Naunheim. Die jungen Männer müssen hier eine ganze Menge Haut zeigen, was aber in Ordnung geht.

Schauspielerisch wird hier geboten, was erklärt, warum ein Großteil des Publikums weit über 18 Jahre alt ist. Dominik Paul Weber spielt in einer überragenden Leistung alle Fassetten des 16-jährigen Luis aus. Den Macher, den Sexprotz, den, der sich in der Clique behauptet ebenso wie den, der an der Ablösung von der Mutter und dem Ende seiner Jugend fast zerbricht und schließlich auch noch sein erstes Begräbnis erleben muss. Sein Schlussmonolog zeigt, dass hier ein ganz großer Schauspieler am Werk ist. Zunächst dubioser Peer-Group-Chef, später Liebhaber von Luis‘ Mutter, immer aber ein wenig zwielichtig ist Milan, der seinen Willen mit allen Konsequenzen durchsetzt und damit lange Vorbild für seine Freunde ist: Philip Schlomm nimmt man diesen Schlemihl ab, und er ist dabei so gut, dass man ihn bis zum Schluss nicht leiden mag. Bernhard Schmidt-Hackenberg hat eine ebenso schwierige Rolle. Er ist der Komiker. Als Marco gibt er den Opportunisten, den Befehlsempfänger, der bis zum Schluss kein wirklich eigenes Profil findet. Harald Peters spielt Jablonski, den älteren, wortkargen Außenseiter und Vertrauten von Luis, der schließlich zu früh stirbt. An Julia Dillmann werden erhöhte Anforderungen gestellt. Sie hat gleich vier Rollen zu stemmen. Eindrucksvoll, was ihr Timing vor allem beim Kostümwechsel angeht, genügt sie in der Rolle der Mutter. Bei den Gesangseinlagen zeigen sich die Darsteller ebenfalls den Herausforderungen gewachsen.

Hajo Wiesemann schafft ein überzeugendes Musikarrangement für das Stück. Vom Band eingespielte Sequenzen von Klavier und E-Gitarre wechseln mit live auf der Bühne gespielten Passagen vom Violoncello, das Schmidt-Hackenberg mit einfachen Griffen bedient, und einem E-Bass, dem Schlomm die Töne entlockt. Das spricht die Jugendlichen an, weil es ihren Rezeptionsgewohnheiten entgegenkommt.

Und auch wenn die Zuschauer im vollbesetzten Haus auf ihren Plätzen sitzen bleiben, zeugt der minutenlange Applaus von einer Begeisterung, die dem Stück vor allem „unter der Plane“ voll und ganz gerecht wird. Dahlem hat mit seinem Team ein Stück geschaffen, das vermutlich ganz schnell Einzug in das deutsche Repertoire halten wird. Zu Recht.

Vor dem Haus sitzt eine Gruppe 16-Jähriger. Ihre Kommentare zeigen, dass Güntner den Jugendlichen „auf’s Maul geschaut“ hat und dass es schön gewesen wäre, wenn genau diese Jugendlichen an dem herausragenden Abend teilgehabt hätten.

Michael S. Zerban

 







Fotos: Sebastian Hoppe