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Fakten zur Aufführung 

DANSERYE
(Sebastian Matthias)
21. November 2014
(Premiere)

Tanzhaus NRW


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Musik

Tanz

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Falsche Ansprache

Sprache ist Identität. Sprache ist Bestandteil der eigenen Kultur und hat nichts mit Patriotismus oder Nationalismus zu tun. Die deutsche Sprache wird im Rest der Welt hoch geschätzt, weil sie farbenfroh und vielfältig wie kaum eine andere die Seele des Lebens auszuloten vermag. Gerade im contemporary dance wird die deutsche Sprache – wie im Alltagsleben – geradezu mit Füßen getreten, weil man sich so gern „international“ gibt. Ein kosmopolitisches Bewusstsein zeichnet sich aber durch Haltung und nicht durch ein paar Fremdsprachenkenntnisse aus. Bei Danserye werden die Tänze ohne jede Not englisch angekündigt. Historischer Blödsinn ist es obendrein. Die Choreografie von Sebastian Matthias basiert auf der Notensammlung Musyck Boexken Danserye von Tielman Susato aus dem 16. Jahrhundert. Susato ist zwischen 1510 und 1515 vermutlich in Soest geboren, lebte lange in Antwerpen und Alkmaar, ehe sich seine Spur in Stockholm verlor. Keine dieser Städte gilt als extraterritoriales Gebiet des British Empire. Ginge es wenigstens um „künstlerische Authentizität“, wäre das Flämische oder Niederländische noch originell gewesen. So trägt die Sprache weiter zur ohnehin schon großen Verunsicherung des Publikums bei. Eigentlich stimmt ja der gedankliche Ansatz des Musikwissenschaftlers Matthias, der auf dem Abendzettel – großer Gott, der Mann ist Deutscher – als englisches Zitat abgedruckt ist: Der Tanz in Diskotheken und Tanzschulen wird demnach vom Zeitgenössischen Tanz immer noch viel zu wenig beachtet. Für Matthias sind Tanztechniken, Organisationsstrukturen und die Art der Wahrnehmung von Diskothekentanz ein produktiver Ausgangspunkt für seine Choreografie, Gruppenorganisation und das Tanztraining. Nur mit der Umsetzung hapert es noch.

Zehn Minuten nach Vorstellungsbeginn werden die Zuschauer auf die Bühne gelassen. Musiktheater „zum Anfassen“ erfreut sich ja bei einem kleinen Teil des Publikums großer Beliebtheit. Der Zuschauerraum ist mit schwarzen Tüchern verhängt. Bühne und Seitenbühnen sind geräumt. Drei gebogene Neonröhren geben eine räumliche Einteilung vor, in der die Besucher sich „frei bewegen“ können. Das heißt, sie wissen nicht, wo sie hinmüssen und staken unsicher, aber hoch motiviert durch den Raum. Notenständer deuten die Positionen der Musiker an. Ein paar Hocker gibt es immerhin für die knapp einstündige Veranstaltung. In diesem „ausgestalteten Raum“ von Manon Awst und Benjamin Walther treten die Tänzerinnen und Tänzer in Kostümen von Nina Irina Witkiewicz auf. Oder besser: Schleichen sich unter das Publikum. Jan Burkhardt und Isaac Spencer in T-Shirt, Jeans und Schuhen, die vielleicht an das 16. Jahrhundert erinnern sollen. Lisanne Goodhue in halbtransparenter Bluse und ziegelsteinfarbener Jeans, Deborah Hofstetter bevorzugt ein royalblaues Kleidchen und Riemchenschuhe. Während Jack McNeill das Publikum zum Mitmachen auffordert, tanzen die Akteure die Besucher an. Wie zu befürchten, fühlen sich einige auch gleich animiert. Einem echten Tanz, also dem Körperkontakt miteinander, weichen die Tänzer allerdings aus. Wiegen sich weiter in kreisel- und wellenförmigen Bewegungen, die mit ruckartigen Zuckungen durchsetzt sind, durch den Raum. Das könnte mit viel Fantasie so etwas wie Schreittänze, Reigen und Springtänze andeuten; Fantasie aber fehlt in der Choreografie, und so werden ewig gleiche oder ähnliche Figuren permanent wiederholt. Das hat nichts mit dem Können der Tänzer zu tun. Schweißüberzogene, schwer atmende Körper zeugen vom Eifer der Akteure. Da das Publikum die Choreografie nicht kennt, geraten die Tänzer gerne auch schon mal ins Abseits – und tanzen unbemerkt weiter. Um dann sogleich wieder an den Grenzen der Kondition wenige Zentimeter vor dem Gesicht eines Besuchers aufzutauchen und ihn mit gequältem Lächeln anzustarren. In Sportvereinen suchen die Sportler nach vollbrachter Leistung nicht die Nähe anderer Leute, sondern verschwinden in der Dusche – und das macht Sinn.

Zu Beginn der Veranstaltung gibt es Schellenarmbänder, die willige Zuschauer auch gleich gern anlegen und frohgemut die Arme schlenkern. So bleibt nach der Veranstaltung ein Klingeln im Ohr zurück. Ansonsten gereicht die Renaissance-Musik, die Michael Wolters „neu interpretiert“ hat, zum interessanteren Teil des Abends. McNeill gibt auf der Klarinette den Ton an. Michelle Holloway begeistert mit Virtuosität auf verschiedensten Flöten bei vollem Körpereinsatz. Was eine Gitarre zu leisten vermag, zeigt Paul Normann. Und Simon Goff untermalt gekonnt auf der Geige.

Dass Matthias ein „offenes Ende“, überflüssig wie ein Kropf, einbaut, kostet die Profis auf der Bühne auch noch den herzlichen Applaus. So bleibt höfliches Klatschen, das für die harte Arbeit von Tänzern und Musikern zu wenig ist und für die Choreografie zu viel. Sebastian Matthias stellt sich dem Publikum nicht. Als „factory artist“, wie die Residenzkünstler im Tanzhaus NRW neuerdings bezeichnet werden, ist das zu wenig. Da hilft auch die schöngeschriebene Uraufführung im Januar vergangenen Jahres in Hamburg nicht.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Arne Schmitt