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Fakten zur Aufführung 

AD LIBITUM
(Andrés Marin)
2. April 2015
(Premiere)

Tanzhaus NRW


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Magier des verhinderten Moments

Der Mut zu ungewöhnlichen Terminen wird vom Publikum selten belohnt. Das Flamenco-Festival, das das Tanzhaus NRW auch in diesem Jahr wieder durchführt, findet an den Ostertagen statt. Und so bleiben am Gründonnerstag zu viele Stühle im Saal leer. Dabei ist auch an diesem Abend ein Vertreter der Weltspitze des Flamencos zu Gast. Andrés Marin ist Autodidakt. Als Sohn zweier Flamenco-Künstler ist er in Sevilla geboren. Und obwohl er bereits als Kind seinen Vater bei den Auftritten begleitete, betont er, habe er sich den Flamenco selbst beigebracht. Heute gilt er als „Picasso des Flamencos“, leitet eine eigene Kompagnie und betreibt in Sevilla eine Flamenco-Schule, in der er auch produziert. Seine Leidenschaft gilt der Tradition des Flamencos, aber gleichermaßen den Ausbruchsversuchen in zeitgenössische Formen. Zugleich ist diese Diskrepanz eine seiner größten Stärken. Im Tanzhaus NRW war er vor fünf Jahren bereits mit El Cielo de tu Boca zu Gast. Jetzt steht die deutsche Erstaufführung von Ad Libitum auf dem Programm, die Ende vergangenen Jahres im Théâtre de Suresnes Jean Vilar mit dem Sänger Segundo Falcón zur Uraufführung kam.

Nach eigenem Belieben – so die deutsche Bedeutung von ad libitum – gestaltet Marin seine Choreografie. Na, das ist gutes Recht des Choreografen, noch dazu, wenn er das Stück selber tanzt. Der tiefere Sinn des Titels erschließt sich bereits in den ersten Sekunden der Aufführung. Auf der Bühne ein Mikrofonständer im Spot, auf dem ein weißer Hut, eine Kreissäge, hängt. Am rechten Bühnenrand sitzen Schlagwerker und Gitarrist. Links wird später der Sänger Platz nehmen.

Auftritt des Tänzers, mit Hose und Flamenco-Schuhen bekleidet. Der entblößte Oberkörper zeigt Askese und Training. Sein Gesang noch leise, behutsam setzt er die Kreissäge auf. Das Mikrofon fängt den klassischen Flamenco-Gesang ein, überträgt ihn auf das Publikum und nimmt es augenblicklich gefangen. Ein paar erste Kostproben klassischer Flamenco-Schritte, die von extremer Ausdruckskraft künden. Im kurzen Rückzug des Sängers offenbart sich das Licht, das auf dieser Bühne Räume schafft. Weißes Licht reicht, wenn man weiß, wie es geht.

Marin ist ein Meister des Verhinderns, der unerfüllten Erwartung. Da bleibt der letzte, der effekthaschende Schritt aus, da gibt es eine Viertel-, eine Halbdrehung mehr oder weniger als erwartet. Flamenco als Form der Meditation, die sich in rasende Rhythmen verwandelt. Traditionelle Schritte, Drehungen und Armbewegungen, klassische Haltungen, die abrupt abgebrochen und in Versatzstücke verwandelt werden. Ganz nach Belieben. Wäre nicht die exakte Übereinstimmung mit Musik und Gesang – man könnte an eine Abfolge von Improvisationen glauben.

Spontan ist allerdings nichts. Nicht die Bilder, die Marin permanent und hochpräzise zeichnet, noch das Zusammenspiel von Tanz, Musik und Gesang. José Valencia nimmt das Publikum sängerisch eindrucksvoll mit auf die Reise in die Welt des Flamencos, ohne dass echtes Verständnis entstünde. Hier dürfen im kommenden Jahr Lösungen vom Festival erwartet werden, wie nicht nur die zahlreichen spanischen Besucher den Flamenco ganz verstehen. Weniger Schwierigkeiten, stattdessen mehr Genuss bieten Dani Suárez am Schlagwerk und den Rhythmusinstrumenten sowie Salvador Gutiérrez, ebenfalls Autodidakt, an der Gitarre. Nicht nur für den Laien eindrucksvoll: Beide Musiker beherrschen ihre Aufgaben auch im Dunkel nahezu perfekt.

Mit viel Theaternebel, oratorienhaften Klängen und einem knienden Tänzer geht eine 70-minütige Aufführung zu Ende, die man so noch nicht gesehen hat. Das Publikum dankt mit teils stehenden Ovationen und einem für das Tanzhaus vergleichsweise langen Applaus.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Klaus Handner