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Fakten zur Aufführung 

ACCATTONE
(Johann Sebastian Bach)
19. August 2015
(Uraufführung am 15. August 2015)

Ruhrtriennale, Zeche Lohberg,
Dinslaken


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Modernes Klagelied

Die Welt gehört den Starken“, jedenfalls möchten die Gang-Boys diesen Eindruck ihren Kumpels, dem Polizisten, den Frauen vermitteln, wenn sie breitbeinig, nichtstuerisch, die Hände in den Hosentaschen, von ihren Heldentaten erzählen oder gemeinsam wilde Pläne schmieden, von denen nie einer Wirklichkeit wird. Eigentlich sind sie alle „Sprücheklopfer“ – gegenüber sich selbst, der Gang oder gegenüber dem Polizisten, der auch nicht mehr bringt. Auf die Reihe bekommt keiner etwas. Diese  Typen kennt man nicht nur aus Pasolinis Film  Accattone, in dem er 1961 realitätsnah das Subproletariat einer römischen Vorstadt skizziert, sie könnten auch aus der Nachbarschaft stammen, wo in den ehemaligen Bergbaukolonien viele junge Arbeitslose herumhängen und den Tag vertun. Die Protagonisten machen schnell deutlich, dass sich das Subproletariat italienischer Vorstädte wenig von den Straßenszenen in Vororten von Gelsenkirchen, Duisburg oder Oberhausen unterscheidet. Sie kommen von irgendwo her und verschwinden auch wieder – irgendwohin, ohne Spuren.

Accattone, zu Deutsch Bettler, von Steven Scharf als eher zurückhaltender Zuhälter gespielt, ist mit „seinen“ Huren beschäftigt. Benny Claessens, ein merkwürdiger Ordnungshüter gelingt die Widersprüchlichkeit des oft mit leiser Fistelstimme sprechenden Polizisten vorzüglich, häufig bleibt unklar, auf wessen Seite er steht. Anna Drexler, als Stella noch kein „Laufmädchen“, bleibt ihrer „Unschuldsrolle“ neben den übrigen Damen des Gewerbes treu, selbst als Accattone sie zwingt und sie ihr Outfit ändert.

Und so ist ihre Geschichte und die des Accattone eigentlich belanglos, langweilig, ohne dramatische Effekte, sie spielt an der Peripherie der Gesellschaft, im unvermeidlichen Staub einer gemiedenen Arbeitswelt. Er ist ein Bettler, ein Zuhälter, der immer und ausschließlich andere für sich arbeiten lässt und darin seine Bestimmung sieht, sie lebt in einer anderen Welt – noch. Wenn dann unvermittelt in die belanglosen Gespräche oder Selbstgespräche die Zeile eines Bachschen Chorals, einer Kantate mit der eindringlichen Frage erklingt „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen?“, wird das ganze existenzielle Gewicht, werden Wut, Hoffnung und Sehnsucht nach einem sicheren Leben unmittelbar fühlbar. Dann überrascht die Frage „Liebster Gott, wenn wird´ ich sterben“ nicht mehr. Die emotionale Wirkung von Orchesterklang und Solopartien ist überwältigend. Nichts wirkt aufgesetzt, deplaziert, der Zuhörer erlebt die Fortsetzung der Gespräche von Gestrandeten mit anderen, mit musikalischen Mitteln. So erfahren die gut 1000 Zuhörer, wie Bachs intensive Musik die überraschende Interpretation einer scheinbar banalen Geschichte unserer Zeit liefert. Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent mit den Solisten Dorothee Mields, Alex Potter, Thomas Hobbs und Peter Kooij agieren seitlich vor der Tribüne, meist im Halbdunkel sitzend, unter der versierten Leitung von Philippe Herreweghe, der die Solopartien der Solisten umsichtig und eindringlich heraus arbeiten lässt. Es ist die Bachsche Musik, die in wunderbarem Kontrapunkt zur banalen Stimmung der Handlung die dramatischen Akzente setzt und berührt.

Das alles gelingt in einer Inszenierung, die Johan Simons, der neue Intendant, mit äußerster Sparsamkeit anlegt. Er nutzt die Weite und Leere dieser Industriehalle kongenial: Vor der am nördlichen Ende der Halle aufgebauten, recht steilen Tribüne dehnt sich ein leerer Raum, rund 200 Meter lang und 64 Meter breit, durch den mittig ein Gleis verläuft. Direkt vor der Tribüne provoziert ein schäbiger Container quasi als Durchgangsstation. Weit entfernt gegenüber der Bühne öffnet sich das andere Hallenende direkt in das Grün der dahinter liegenden Berghalde, die sich die Natur inzwischen zurückgeholt hat. Die Fläche wird Teil der Inszenierung, in der Muriel Gerstner bis auf den schäbigen Container auf jegliche weitere Dekoration verzichtet und die Dimensionen der Halle dramaturgisch geschickt nutzt. Die ganze Halle wird zur „Bühne“, Gerstner spielt mit der gigantischen Leere und – später – der Dunkelheit der Halle, die unendlichen Raum für die Bewegungen der Figuren bietet. So taucht Stella schon lange vor ihrem Auftritt in der Ferne als weiße Gestalt auf, Accattone schiebt fünf Minuten lang sein Motorrad zum vorderen Spielplatz, bevor er direkt vor der Zuschauertribüne zu Tode stürzt und eine makabre Beerdigung verursacht. Stella ist die einzige, die zunächst ein weißes Kleid trägt, bevor sie sich nach Accattones heftigen Attacken der bunten „Berufskleidung“ der übrigen Damen anpasst.

Ein seltsames Schlussbild, wenn Accattone unendlich langsam in unsicheren Schritten sein Motorrad aus der Dunkelheit auf die Tribüne zuschiebt, um dann nach seinem nur angedeuteten Unfall und Tod in aller Ausweglosigkeit dieser Situation zu sagen: „Now I´m doing well“.
Nach dem black out verharrt das Publikum sichtlich berührt einige Minuten still, bevor es sich begeistert mit lang anhaltendem Beifall für einen außergewöhnlichen Theaterabend bedankt. Auf unerwartete Weise erfährt ein eher banaler Stoff durch eine einfühlsame musikalische Deutung ein überraschendes Gewicht.

Horst Dichanz