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Fakten zur Aufführung 

DAS NARRENSCHIFF
(Heinrich Unterhofer)
28. Mai 2014
(Uraufführung)

Biennale für Ostwestfalen-Lippe, Musikhochschule Detmold


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Polonaise zum Abgrund

Ein wenig venezianischer Karneval im Foyer des modernen Konzerthauses der Hochschule für Musik (HfM) in Detmold – warum nicht? Während der Sekt in den Gläsern der Besucher langsam zur Neige geht, schreiten weiß gekleidete und maskierte Damen und venezianisch gekleidete junge Herren durch die Vorhalle, erklingen leichte Gitarren- oder Spinettklänge. Die Bewegungen der Masken gehen allmählich in Tanzbewegungen über, die schließlich die Zuschauer mit einbeziehen. Fast zufällig formt sich eine Polonaise, die langsam den Weg in den großen Saal findet – entspannte, fröhliche Stimmung.

Eine große Videoprojektion auf der Bühne zeigt Andeutungen eines Schiffsrumpfes. Wer dieses Schiff besteigt, muss ein Narr sein: roh und blank ragen die Spanten in den projizierten Himmel. Dieses leicht schaukelnde Schiff kann niemand betreten, ihm fehlt die Beplankung – der Untergang ist Teil der Konstruktion. So deutet Heinrich Unterhofer, Komponist, Regisseur und musikalischer Leiter dieses „multimedialen Spektakels“ das Thema seiner Aufführung an, die er bei der Biennale für Ostwestfalen-Lippe in Detmold zur Uraufführung bringt. „Sicher ist das Werk erst nach der Uraufführung fertig“ – na, viel Vergnügen. Aber die Überraschung gelingt.

Unterhofer, Südtiroler Multitalent zwischen klassischem Konzert, Oper und Multi-Media-Spektakel, ist ein Garant für neue originelle Performances. Schon sein Titel für eine Galanacht in Toblach, Südtirol verrät das: Musik, Pantomime, Krapfen und Prosecco. Auch wenn für ihn „Musik eine spirituelle Kunst“ ist, scheut er sich keineswegs, mit modernen, technikgenerierten Formen und Klängen zu arbeiten, und sitzt auch selbst gern am Schneidetisch.

Das Narrenschiff, auf dem vor Zeiten Aussätzige im weitesten Sinne aus der Gesellschaft entfernt und ausgesetzt wurden, ist für Unterhofer das „Symbol der Ansammlung kranker und irrsinniger, aber auch andersartiger Menschen“, zu denen auch unbequeme, kreative und künstlerisch tätige Menschen gezählt werden. Das könnte ein finsterer Abend werden. Doch der Abend bleibt heiter, trotz der zahlreichen Bedrohungsszenen, die bildlich und musikalisch schnell wechselnd angedeutet werden, vom Schiff zum Weltuntergang oder in den OP-Saal einer „Narrenklinik“. Hierzu nimmt Unterhofer Texte von Homer, Dante, Sebastian Brant und Goldoni zu Hilfe, deren Zuordnung und Interpretation er den Zuhörern überlässt. Er verzichtet auf einen Handlungsfaden.

Federico Cautero gelingen außerordentlich effektvolle und originelle Videoinstallationen, von denen vor allem die auf große Engelsflügel projizierten Möwenschwärme und ein das Meer überspannendes Gitternetz auffallen. Wenn dann gegen Schluss dröhnendes Hubschraubergeknatter den Saal erfüllt und ein scharfer Suchscheinwerfer einzelne Besucher herausschneidet, wird die Aktualität dieser Inszenierung unheimlich greifbar. Meterhohe Stacheldrahtzäune, ob in Korea, in den USA oder an den Grenzen der EU, Zuwanderergesetze und mit Hubschraubern ausgerüstete scharfe Wachen sind die heutigen Formen der „Narrenschiffe“. Bürgerkriegsflüchtlinge in Nussschalen mit unfähigen Kapitänen zwischen Afrika und Europa bemerken zu spät in ihren plankenlosen Booten, dass sie eigentlich ausgesetzt sind.

Das junge, hoch motivierte Orchester von Studenten der HfM spielt professionell. Venezianische Tänze sind ihm ebenso vertraut wie klassisch-romantische Klänge, Bongorhythmen ebenso wie elektronisch verfremdete Passagen. Bestens ein- studiert, wirkt der Detmolder Oratorienchor mit. Rezitationen, durch verstellte Stimmen oder Kinderstimmen verfremdet, ergänzen die Musik, ohne dass klar wird, ob und wo es zwischen ihnen Beziehungen gibt. Unterhofer komponiert zu den Szenen und rezitierten Texten eine breite Palette moderner Musik, die Elemente venezianischen Frühbarocks ebenso erkennen lässt wie harmonisch sanfte Passagen. Andere Stücke tragen Solostimmen vor, unter denen Myriam Dewald, Pia Buchert, Volker Hanisch und Niklas Clarin überraschen. Thomas Mittmann gibt den würdigen Pfarrer und Magister, Rebekka Bigelmayr und Irina Trutneva verzaubern den Abend als grossflügelige Engel, und Gunnar Frietsch als Truffaldino muss sich als Diener zweier Herren mit zwei großen Reisekoffern durch den Abend quälen.

Auch wenn Protagonisten und Zuschauer sich selbst oft auf einem „Narrenschiff“ empfinden, bleibt der Abend „eine Reise ins Gewisse“, der vom ersten Moment an seine Spannung hält. Mit lang anhaltendem Beifall und Bravorufen bedankt sich ein bestens unterhaltenes und fröhlich gestimmtes Publikum bei allen Beteiligten und freut sich über dieses gelungene Multi-Media-Spektakel, das manche neue Idee für ein fröhliches, junges Musiktheater präsentiert.

Horst Dichanz

Fotos: Horst Krückemeier