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Fakten zur Aufführung 

DIE SCHWARZEN BRÜDER
(Georgij Modestov)
7. August 2014
(Deutsche Erstaufführung)

Schloss Bückeburg


Points of Honor                      

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Sternstunde in der Provinz

Die privatwirtschaftlich finanzierten Musicals stehen von der ersten bis zur letzten Aufführung unter Erfolgsdruck. Um zu funktionieren, brauchen sie neben einer hervorragenden künstlerischen Leistung vor allem perfekte Organisation und ein bis zum Anschlag hochgeschraubtes Marketing. Als neuester Marketing-Gag scheint sich der B-Promi zu etablieren, der auf dem Plakat erscheint und offenbar auch wirkt.

Möchte man den Erfolgsdruck noch steigern, veranstaltet man eine Open-Air-Veranstaltung. Das finanzielle Risiko steigt um ein Vielfaches innerhalb eines vergleichbar geringen Zeitraums, der Organisationsaufwand potenziert sich und auf den Sommer ist in Deutschland ja schon lange kein Verlass mehr.

Es erfordert also ziemlich viel Mut – oder Wahnsinn? – und einen Stoff, von dem man bis in die tiefste Faser seines Herzens überzeugt ist, um ein solches Projekt anzugehen. Besser noch ein Thema, das die Massen kennen und von dem sie sich angesprochen fühlen. Und dann geht es in eine Metropole, schon wegen der Zuschauerzahlen.

Produzent Moritz Sachs hingegen reitet der Teufel. Er nimmt eine Geschichte, die in Deutschland so gut wie unbekannt ist, und lässt sie in der niedersächsischen Provinz von Mirco Vogelsang und seinem Team als Open-Air-Musical inszenieren. Das kann nach ökonomischen Erwägungen nur unbedarft, grenzdebil oder größenwahnsinnig sein. Ein paar örtliche Geldgeber immerhin findet er als Sponsoren, und Alexander Graf von Schaumburg-Lippe stellt seinen privaten Schlossgarten zur Verfügung, weil er eigentlich mehr Kultur in seine Stadt bringen möchte.

„Seine“ Stadt ist das verschlafen-idyllische Bückeburg mit knapp 20.000 Einwohnern, an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen gelegen und 50 Kilometer von Hannover entfernt. Der erste Eindruck als ortsfremder Gast: Parkplatzmanagement ist hier ein ganz großes Thema. Der zweite Eindruck ist, dass nach einigen Bausünden hier ein paar Leute darüber nachgedacht haben, wie man den historischen Kern erhält und präsentiert. Im Zentrum ein dreiflügeliges Schloss mit einem wunderschönen Park.

Hinter dem Haupthaus des Schlosses ist eine sieben Meter hohe Tribüne aufgebaut, die 1200 Menschen Platz bietet. Die rückwärtige Fassade hat sich in eine liebevoll gestaltete Bühne verwandelt. Balkone und Fenster werden in die Handlung einbezogen. In der Mitte eine große Bewegungsfläche, links davon ein Seitenarm, in dem das zwölfköpfige Orchester untergebracht ist. Zwischenzeitlich wird davor ein Café aufgebaut. Auf der linken Seite ein Podest mit Stufen zur Hauptbühne. Auf dem Podest die Wohnung des Kaminfegermeisters Rossi und weiter rechts davon ein Beet, in dem Friedhofskreuze eingeschlagen sind. Im Hintergrund der Hauptbühne ein paar Kamine. Das ist alles aus einem Guss. Harry Behlau bietet hier echte Spielräume, die ohne weitere Erklärung verständlich sind.

Ehe die Bühne allerdings ihre volle Wirkung entfalten kann, erlebt der Besucher eine Perfektion in der Organisation, die an sich schon beeindruckt. Vor der Veranstaltung Grußworte des Oberbürgermeisters, des Landrats, des Grafen und des Finanzministers in Vertretung des Ministerpräsidenten. Gut, es ist die Premiere. Und alle fassen sich dankenswerterweise kurz. Schön, dass sich die Sponsoren einen Auftritt verkneifen.

Als es dann mit viertelstündiger Verspätung losgeht, braucht es, um in den Zauber der Handlung einzutauchen. Zumal das Sounddesign von Serge Gräfe nicht funktioniert. Das Gefühl, vor einem Mono-Lautsprecher zu sitzen, nimmt viel von der Faszination der Geschichte. Dass die ersten Lichteffekte von Gerrit Jurda erst eine Stunde nach Beginn greifen, trägt ebenfalls nicht dazu bei, sich auf die Geschichte einzulassen. Immerhin hat Kai Rudat mit ihren Kostümen ganze Arbeit geleistet und bietet glaubhafte, historische Kostüme, die ein Sittenbild vergangener Jahrhunderte entstehen lassen.

Bleibt zunächst der Inhalt. Kinder werden in der Not von ihren Eltern im Tessin verkauft, um sich als „Schornsteinbesen“, als spazzacamini, in Mailand zu verdingen. Neben der sozial-miserablen Situation läuft es aber schnell auf eine Geschichte von Freundschaften hinaus. Das lässt sich nicht schlecht an. Enden wird das Ganze optimistisch, obwohl unterwegs ein Toter zu beklagen ist. Und während man sich über das Catering-Personal ärgert, das ungeachtet des Geschehens auf der Bühne permanent die Treppen hinauf- und hinunterläuft, um den vorsichtshalber separierten VIP-Bereich mit Speisen und Getränken zu versorgen, ist die Pause gekommen. Wiederum großartig organisiert, gelingt es den Verantwortlichen erneut nicht, für einen pünktlichen Beginn zu sorgen.

Der Abend beantwortet die Frage, was die größte Chance einer Aufführung ist, nachdrücklich. In dem Teil nach der Pause werden alle Versprechen eingelöst. Und es gibt ganz großes Musical ohne alle Einschränkungen. Abgesehen vom Sounddesign. Hier gibt es Arien, tolle Tanzeinlagen, Prügelszenen, das ganz große Gefühl, die Sehnsucht und auch ein paar Tränen, weil es einfach so schön ist. Vogelsang lässt nichts aus, was zum Erfolgsmusical gehört, das eine Zukunft hat. Seine Personenführung ist perfekt, die Choreografie von Sabine Lindlar macht einfach Spaß und die Unsicherheiten einer Premiere verlieren sich im rasanten Bühnengeschehen.

Dazu tragen vor allem die überzeugenden Leistungen der Darsteller bei. Jasper Klein, gerade mal 13 Jahre alt, spielt und singt Giorgio berührend. Der Knabensopran überzeugt auch in den dissonanten Phasen der Musik, lässt sich von der eigenen Anspannung nicht überwältigen und tritt wie ein Profi auf. Ganz großes Kompliment, lieber Jasper. Wunderbar auch, wie ihm die anderen Solisten zuspielen. Sandra Pangl als Freundin Angeletta, Tochter von Rossi, unheilbar an Schwindsucht erkrankt, gibt ihm den seelischen Rückhalt. Thorsten Tinney spielt den Kaminfeger-Meister Rossi. Souverän meistert er die familiären Konflikte und überzeugt stimmlich. Anselmo, der Unsympath, wird von Andreas Röder so dargestellt, dass man ihn wirklich nicht leiden mag. Janko Danailow zeigt – auch als Dahingeschiedener – einen Alfredo, der die Sympathien auf sich vereinigt. Maite Kelly spielt und singt die Rolle der Mutter Rossi mit viel Vehemenz. Das kommt beim Publikum an. Besonders erwähnenswert ob ihrer Ausstrahlung ist auch Julia Wildmayer, die Freundin des Anführers der Wölfe. Peter Zeug zeigt sich in der Doppelrolle des Luini und Dottor Casella: Danke! Auch dem übrigen Ensemble möchte man am Ende des Abends erfüllt die Hand drücken.

Ein wirklich großer Abend, der ohne die glanzvolle Leistung des Orchesters unter Andreas Pabst undenkbar wäre.

Das sieht auch das Publikum so. Nach zahlreichen Szenenapplausen springt es zum Ende der Aufführung wie ein Mann auf, um der glanzvollen Leistung zu gratulieren. Begeisterungspfiffe sind ebenso zu hören wie die zahlreichen Bravo-Rufe. Kurzum: Das Publikum ist hin und weg. Das Konzept ist voll und ganz aufgegangen. Manchmal braucht es eben auch ein wenig Größenwahn, um zu Höherem zu gelangen.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Niels Stappenbeck