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Fakten zur Aufführung 

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)
9. Oktober 2015
(Premiere am 3. Oktober 2015)

Theater Bremen,
Theater am Goetheplatz


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Das Rätsel des Außenseitertums

Der Fischer Peter Grimes lebt in einem kleinen Dorf an der englischen Küste. Er kann keine Beziehung zu Ellen Orford, einer verwitweten Lehrerin aufbauen, die als einzige zu ihm hält. Er bleibt allein und Außenseiter. Er steht in dem Verdacht, den Tod eines Lehrjungen verursacht zu haben. Trotz Freispruchs des Richters bleibt er für die Dorfbewohner schuldig. Als bei einem weiteren Jungen Verletzungen beobachtet werden, steigert sich der Unmut und droht in Gewalt gegen Grimes umzuschlagen. Grimes schickt den Jungen weg. Dieser kommt durch einen Sturz von den Klippen ums Leben. Grimes kommt der Verfolgung durch die Dorfbevölkerung zuvor, indem er auf das Meer hinaus fährt und sein Boot selbst versenkt. 

Grimes und das Dorf sind Tableau für viele Interpretationsansätze. Der kleinbürgerlichen Enge der ihn umgebenden Gesellschaft wird in der Oper viel Raum gegeben. Konnotationen bestehen zu einer bürgerlichen, funktionierenden Effizienzgesellschaft, nicht ausgelebter Sexualität, potenziell auch Homosexualität der Titelfigur, seelischen Angstzuständen vieler Art. Die Handlung entwickelt sich auf drei Ebenen: Peter Grimes, Individuen aus dem sozialen Spektrum des Dorflebens, wie unter anderem der Richter, die Lehrerin, der Kapitän und die Wirtin sowie der anderen Dorfbevölkerung.

Der Regisseur Marko Štorman schaltet zwei dieser Ebenen aus. Er äußert im Interview, die im Textbuch individualisierten Dorfbewohner seien für ihn „Fratzen“ und der Chor „Untote“. Einzig Grimes, Ellen und der Lehrjunge sind individualisiert. Aber auch die stumme Rolle des Lehrjungen ist nicht real. Er erscheint vervierfacht und ist laut Štorman Spiegelbild von Grimes’ Seele.  

Die vier Lehrjungen übersetzen choreographisch überzeugend viele von Grimes’ Sehnsüchten nach Wärme und Geborgenheit ins Bildhafte. Dasselbe gilt für die Begegnungen zwischen Ellen und Grimes, aber Grimes kann das nicht annehmen.

Von diesen szenischen Umsetzungen abgesehen, verharren alle anderen Personen der Handlung und der Chor im Unbestimmten und lemurenhaften. Der Chor in Einheitsperücken und die meisten Solisten in strikt überzeichneten Kostümen. Hier ist von vorneherein keine Begegnung mehr möglich, aber auch keine theatergerechte Umsetzung. Die ausgespielte und komponierte Handlung mit diesen Figuren und Gruppen nimmt jedoch nicht unerhebliche Zeit- und Spielanteile in Anspruch und ist durch den Umgang quasi szenisch und inhaltlich negiert und langweilig. Deren physische Anwesenheit wirkt widersinnig. Es wird die Auseinandersetzung mit dem „Normalen“ unmöglich gemacht, eine Auseinandersetzung kann nicht stattfinden. Vielleicht hätte man andernfalls Gründe oder Bilder des Scheiterns nachvollziehen können. Štorman steigt jedoch in ein Spätstadium der psychologischen Krise ein. Da aber gibt es schon keine Ansätze von Dialog oder Hoffnung mehr.

Alternative Konzepte haben eine solche extreme Lesart anders umgesetzt, indem die Figuren konsequenterweise ganz in den Seitenportalen der Bühne oder in den Rängen unsichtbar werden, nicht aber ihre Stimmen.

Das Bühnenbild besteht aus dem Schwarz des Bühnenraums und einem auf zwei Ebenen konstruierten, beweglichen „Haus“. Der vordere Bühnenraum steht unter Wasser, so dass alle Beteiligten immer durch die Ausläufer des Meeres waten müssen. Das erhöht die Unwirklichkeit und die Suggestion einer Gefahr des Bodenlosen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet das Haus mit seinen armseligen Elementen des gescheiterten Heimes diese raumgreifende Präsenz hat. Es wirkt erst überzeugend, sobald es durch die eingeblendeten, eindrucksvollen Videoeffekte wieder aufgelöst wird und am Schluss niederbrennt. Auf diese Weise zieht das Team in Regie, Bühnenbild von Anna Rudolph und Dominik Steinmann, Kostümen von Sara Schwartz und Videoeffekten von Max Görgen und Roman Kuskowski in seiner unentschlossenen Mischung von Wirkungselementen am selben Strang.

Will Hartmann ist Peter Grimes. Seine sängerische und darstellerische Leitung ist großartig. Die Verkörperung der Rolle macht den uneinheitlichen Theaterabend gleichwohl zu einem Erlebnis. Hier ist dem Regisseur zusammen mit dem Sänger durch intensives Erarbeiten dieser am Ende verlöschenden Figur ein nachhaltiger Eindruck gelungen. Die Ellen Orford von Patricia Andress ist gesanglich und darstellerisch überzeugend. Sie gibt dem Schmerz dieser unmöglichen Beziehung zwischen ihr und Grimes tiefen Ausdruck. Auch die anderen Solisten werden gesanglich ihren Rollen gerecht. In ihrer Darstellung sind sie im beengten Konzept limitiert oder neigen im Einzelfall zum Übertreiben.

Der Chor unter Leitung von Daniel Mayr wird seiner stimmlichen Bedeutung in der anspruchsvollen kompositorischen Struktur der Partitur gut gerecht.

Das Orchester unter Clemens Heil fühlt sich tief in Brittens Klangwelten ein. Es gelingt vor allem auch in den Zwischenspielen eine tief gestaffelte, raue und „salzige“, gefahrbringende Klangstruktur des Meeres, die den Abend über allgegenwärtig bleibt.

Das Publikum des in der ersten Aufführung nach der Premiere nicht voll besetzten Hauses applaudiert lang und herzlich mit vielen Bravorufen für das Dirigat, das Ensemble und den Chor.  Will Hartmann wird zu Recht mit Bravos überschüttet und dankt sichtlich gerührt seinen aufmerksamen Zuhörern.
       
Achim Dombrowski

 

Fotos: Jörg Landsberg