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Fakten zur Aufführung 

Thaïs
(Jules Massenet)
18. Mai 2014
(Premiere)

Theater Bonn


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Klangrausch der seelischen Verwüstung

War Jules Massenets Oper Thaïs in den ersten Jahren nach der Uraufführung 1894 in Paris ein Skandal und jahrzehntelang in der überarbeiteten Fassung von 1898 ein Bühnenerfolg, so ist die Comédie lyrique dem heutigen Publikum ein kurioser Sonderling. Die wundersame Läuterung und Gottfindung der Kurtisane Thaïs im Ägypten des vierten Jahrhunderts sowie die nicht minder ungewöhnliche Bekehrung des Mönches Athanaël hin zur Bejahung weltlicher Freuden muten uns als ein Kompendium voller Rätsel an. Schon die Ur-Idee der diagonal entgegengesetzten curricula vitae, die sich wie in einer Architektenskizze kurz in der geometrischen Mitte treffen, ist nicht frei von Absurdität.

Wer kann überhaupt ein Interesse haben an einem Stoff, der uns erst ein Saulus-Paulus-Spektakel mit der Macht der Musik in die Sinne treibt, um es sogleich wieder aufzuheben? Warum ist das Werk in drei Akten und sieben Bildern von Louis Gallet nach dem Roman von Anatole France als komisches Sujet etikettiert, dann jedoch völlig frei von jeglicher Komik? Nur weil Massenet es ursprünglich für die von ihm begehrte kalifornische Sopranistin Sybil Sanderson schreibt, die der Pariser Opéra Comique angehört? Warum setzt sich die schlussendlich am Palais Garnier uraufgeführte Sinnsuche im Stil der französischen Oper mit obligatem Ballett außerhalb Frankreichs praktisch nicht durch, hingegen aber ein spärlicher Teil von ihr, die méditation réligieuse? Und wie ist es eigentlich zu bewerten, dass sich das aus unzähligen Konzertprogrammen und Bearbeitungen populäre Zwischenspiel für Violine und Orchester aus dem zweiten Akt unter Ausklammerung des Eigentlichen verselbständigt hat? Rätsel über Rätsel also, die das Theater Bonn allerdings nicht im Mindesten daran gehindert haben, sich an dieser französische Tannhäuser-Variante zu wagen und das Abenteuer letztlich zu bestehen. Der kleine orientalische Zyklus im Haus am Rhein - nach Delibes‘ Lakmé und Verdis Aida nun also der Zug durch virtuelle Wüsten und seelische Verwüstungen aus frühchristlicher Epoche – vollendet sich vorläufig mit einer lohnenden Entdeckung. Massenet ist eh in an deutschen Opernhäusern. Im Zweifel kann da seine zehnte Oper nur gewinnen.

Das Versprechen des Dirigenten Stefan Blunier im Vorfeld der Premiere, die Musik Massenets sei „ein Traum“, ist wohl auch der Schlüssel zur Entscheidung für das französische Mysterium. Wie er mit dem prächtig aufgelegten Beethoven-Orchester Bonn das reiche Farbenspektrum der Partitur, die bisweilen suggestive Wirkung der Melodik Massenets und das spezifische Gewebe der diversen Handlungs- und atmosphärischen Tableaus erarbeitet und zum Leuchten bringt, ist allein schon den Besuch wert. Auch der von Volkmar Olbrich einstudierte Chor des Theaters Bonn agiert sängerisch und ganz besonders spielerisch vortrefflich.

Leger formuliert, ist eine überzeugende Besetzung der Titelfigur die halbe Miete einer gelingenden Thaïs-Produktion. Zu Massenets Zeiten sicherten die Sanderson, später dann insbesondere Lina Cavalieri, das Glamourgirl der Pariser Oper und des Boulevards, die Akzeptanz des Werks. In den letzten Jahrzehnten profilierten sich Beverly Sills und Renée Fleming mit der komplexen Partie und wiederum diese. Bonns Thaïs ist die Französin Nathalie Manfrino, die die enormen Anforderungen der schillernden Figur von der auf Schönheit und Begehren fixierten femme fatale bis zur entsagenden Büßerin voll erfasst und mit ihrem dramatisch wie lyrisch ausdrucksstarken Sopran zur Geltung bringt. Sie hat die Partie zuvor bereits am Teatro Regio in Turin sowie beim Massenet-Festival in St. Etienne gesungen. Noch übertroffen wird die Manfrino von Evez Abdulla als Mönch Athanaël. Wie der Bariton aus Baku, Bonner Ensemblemitglied seit Beginn der Spielzeit, mit seiner muskulösen Gestalt und seinem robusten Organ die einzelnen Stufen dieses Lebensweges von der Askese zur Apotheose der irdischen Verlockungen durchlebt, ist schlicht sensationell. Mal schmelzend die Stimme, mal schneidend und abweisend, dann etwa, wenn er Thaïs durch die Wüste zum Kloster der Mutter Albine solange hetzt, bis der Nonne in spe das Blut aus den Füßen tropft. Kaum zu glauben, dass das Bonner Publikum hier ein Rollendebüt erlebt hat. Mirko Roschkowski gibt den reichen, jungen Alexandriner Nicias mit ansprechendem Tenor. In weiteren Rollen runden Priit Volmer als alter Mönch Palémon und Susanne Blattert als Äbtissin das positive Gesamtbild.

Wie lässt sich der Sonderling der Oper überhaupt inszenieren? Der Franzose Francisco Negrin hat sich im Team mit dem Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic und der Kostümdesignerin Ariane Isabell Unfried für eine Lösung entschieden, die einen passablen Mittelweg zwischen Hollywood-Ägypten und dem Theater der sprechenden Leere findet. Sie hätte durchaus auch jemandem einfallen können, der an einem Tag sowohl das Ägyptische Museum in Kairo wie das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe besucht hätte. Assoziationen zur Welt der Pharaonen weckt eine übergroße Scheibe im Bühnenzentrum, die die Protagonisten je nach Gefühlslage als Himmelskompass wie als Fanal des Verderbens deuten können. Völlig leer ist die Bühne als Schauplatz der Szene in der Wüste, der ideale Ort zugleich für das wunderbare, weil zurückgenommene Duett von Kurtisane und Mönch Baigne d’eau mes mains. Hier stellt sich manchem vielleicht der Gedanke an Massenets Manon ein, die wie der Werther in den Jahren zuvor komponiert wurde. Bleiben nicht zuletzt die mobilen grellen Lichtbatterien, die Thomas Roscher hinter der Riesenscheibe installiert hat. Auf hohe Intensität gezoomt, brennen sie gleichsam das Schicksal des Menschen zwischen Gottesferne und Erdennähe den Besuchern in die Seele. Tänzer mit Köpfen von Schakalen, die sich geschmeidig-biegsam um die Handelnden ringeln, verdeutlichen die Bedrohung, die stets spürbar und allzeit präsent ist.

Zum Glück gibt es noch die Méditation. Mikhail Ovrutsky, der junge Konzertmeister, spielt sie auf seiner Violine ergreifend schön, mit sicherem Gespür für Tempo, Intensität, Steigerung und Verlöschen, in subtiler Abstimmung mit Bluniers Musikern. Der Musikkritiker Ernest Newman hat zu ihr eine spezielle Sicht entwickelt, die über das übliche Dekorative hinausgeht. Sie sei eben nicht allein eine wunderbare, endlose, sich selbst erzeugende Melodie, vielmehr auch ein vollkommenes musikalisches Porträt der Gedankengänge, die der Wandel des Lebenskonzepts auslösen könne. Das begeisterte Bonner Publikum jedenfalls hat bekommen, worauf es gewiss gewartet hat. Minutenlang feiert es am Ende, die meisten dann stehend, die Akteure des Abends, ohne groß zwischen musikalischer Performance und Inszenierung zu differenzieren. Die Oper hat vielleicht, ausgehend vom Theater Bonn, eine neue Chance gewonnen, vollständig wahrgenommen zu werden. Gnade für Thaïs! Ist schon die Kurtisane und Nonne von einst todgeweiht, sollte doch wenigstens die Oper leben.

Ralf Siepmann

Fotos: Thilo Beu