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Fakten zur Aufführung 

VERKLÄRTE NACHT
(Anne Teresa de Keersmaeker)
16. August 2012
(Uraufführung)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Musik

Tanz

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Getanzte Lyrik

Die Bochumer Uraufführung von Anne Teresa de Keersmaekers Choreografie zu Arnold Schönbergs virtuosem Frühwerk Verklärte Nacht ist bereits ihre zweite Interpretation dieses spätromantisch-expressionistischen Werkes nach dem gleichnamigen Gedicht von Richard Dehmel. 1995 gestaltet De Keersmaeker zusammen mit Klaus Michael Grüber einen Schönberg-Abend an der Brüsseler Nationaloper unter der musikalischen Leitung von Antonio Pappano. Grüber inszeniert das Monodram Erwartung, De Keersmaeker choreografiert mit ihrer Compagnie Rosas die Verklärte Nacht und die Begleitmusik zu einer Lichtspielszene. 1996 ist diese Verklärte Nacht Bestandteil der De Keersmaeker Produktion Woud, three movements to the music of Berg, Schönberg and Wagner, in der Verklärte Nacht mit Alban Bergs Lyrischer Suite und Richard Wagners drittem Wesendonck-Lied Im Treibhaus kombiniert ist, womit sie die musikalische Entwicklung von Wagner zu Berg retour passieren lässt. Das erweiterte Duke Quartett interpretiert Schönbergs ursprüngliche Sextett-Fassung des Opus 4 von 1902.

In diesem Jahr produziert Anne Teresa de Keersmaekers nun die Verklärte Nacht als Solitär in einer etwa 45 Minuten dauernden Aufführung für die Ruhrtriennale. Die Musik gibt es diesmal nicht live, sondern De Keersmaeker wählt mit der frühen Boulez-Aufnahme mit dem New York Philharmonic Orchestra von 1973 eine spätromantisch warme, wenig analytische Version der späteren Streichorchesterfassung des Werkes, um sie mit einem kalten und leeren Bühnenbild zu kontrastieren. Die frühe Produktion der Verklärten Nacht verfügt im Bühnenbild von Gilles Aillaud noch über ein stilisiertes, stimmungsvoll beleuchtetes Wäldchen, die aktuelle Inszenierung handelt allein auf einer leeren Spielfläche in der großen Weite der Bochumer Jahrhunderthalle.

Spielbeginn ist 21 Uhr, in die Halle dringt noch das Restlicht der Abenddämmerung durch eine die Aussenwand fast vollständig einnehmende Fensterfront und erzeugt eine graue, fahle, neblig wirkende, sehr dichte Atmosphäre, was gut zur Stimmung der Gedichtvorlage passt. Die große Spielfläche ist mit einem Scheinwerfer aufgehellt, ohne aber stark in den Dämmerungscharakter einzugreifen. Die zweite große formale Änderung ist die Besetzung: In der frühen Fassung vervielfältigt De Keersmaeker die beiden Charaktere auf sechs Paare und zwei Solistinnen. Jetzt umfasst die Inszenierung textgetreuer nur das handelnde Paar, ergänzt um einen zweiten männlichen Darsteller am Anfang des Stückes, der die Vorgeschichte der Situation ins Spiel bringt. Die Frau tanzt Samantha van Wissen, die bereits an den beiden frühen Produktionen beteiligt war, Boštjan Antončič den Mann und Nordine Benchorf die hinzugefügte Figur des Ex-Geliebten und Vater des Kindes. Zu Beginn drei stumme Szenen: Die Frau trifft auf den ersten Geliebten, dann in der gleichen Figurenabfolge auf den Nachfolger, zuletzt treffen sich alle drei, ein Bild für die Dreiecksbeziehung. Die Kostüme von Emma Zune situieren die Geschichte ins Heute. Nach dem Einsatz der Musik beginnt das eigentliche Stück. Die Handlung: Ein Paar trifft sich im mondbeschienenen, kalten Eichenwald. Sie gesteht ihm, dass sie aus einer kurzen, durch einen unbändigen Kinderwunsch motivierten Beziehung schwanger ist. Der Mann akzeptiert das Kind als sein eigenes und beide gehen umschlungen weiter durch die „hohe, helle Nacht“. Samantha van Wissen zeigt die Frau in ihrer ganzen Verzweiflung, die allein durch den sich bewegenden Körper ausgedrückt wird. Sie rast durch den Raum, umkreist den Mann, springt, wirft sich zu Boden, hält inne, während der Mann ihr zuerst bewegungslos den Rücken zuwendet. Erst langsam finden sie zueinander. Das ist ungemein ausdrucksstark und berührend. In der Akzeptanzszene werden die Bewegungen unisono ausgeführt. Etwas offen allerdings der vom Gedicht abweichende Schluss. Die Frau geht ab, der Mann verweilt allein tanzend auf der Bühne.

Die Sprache der Choreografie weist die typischen abstrakten De-Keersmaeker-Formen und Bewegungsabläufe auf – Spiralen, Kreisbewegungen, impulsives Rennen, auch typische Gesten, die man aus anderen Arbeiten kennt, sind vorhanden. Doch hat sie auch expressives Vokabular integriert, das aus den Paarskulpturen des französischen Bildhauers Auguste Rodin, die sich durch eine starke emotionale Innenspannung auszeichnen, abgeleitet ist. So eint sie abstrakt formale Strukturen mit dem konkret-individuell Expressiven, womit sie kongenial auf Schönbergs Komposition antwortet, die über eine tonmalerisch illustrative Vertonung des Dehmel-Gedichtes hinausgeht. Schönberg zufolge ist die Verklärte Nacht eine Reflexion in Musik über das Gedicht und keine Schilderung einer dramatischen Handlung.

Die Produktion entsteht in Kooperation mit der Monnaie-Oper und dem Kaaitheater Brüssel. Wer die beiden ausverkauften und mit Ovationen gefeierten Bochumer Aufführungen nicht sehen konnte, hat im Rosas Performance Space in Brüssel in einer zweite Aufführungsreihe Anfang September erneut die Gelegenheit.

Dirk Ufermann

Fotos: Anne van Aerschot