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Fakten zur Aufführung 

NEITHER
(Morton Feldman)
7. September 2014
(Premiere am 6. September 2014)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Im Schattenreich

Morton Feldmans Neither nach einem Text des irischen Dramatikers Samuel Beckett gehört zu den abstraktesten und hermetischsten Werken für das Musiktheater überhaupt. Legendär ist die Begegnung der beiden im September 1976 in Berlin, die den Ursprung von Neither bildet. Beide hegen eine Abneigung gegen die Gattung der Oper: „Mr Feldman, ich mag keine Opern“ und „Ich mag nicht, wenn meine Worte in Musik gesetzt werden“, stellt Beckett gleich klar, der Feldman's Oeuvre zu dem Zeitpunkt noch nicht kennt, aber als Pianist ein guter Musikkenner ist. „Ich kann's ihnen nicht verdenken!“, „Ich bin völlig Ihrer Meinung“, entgegnet Feldman daraufhin. Worum es gehen könnte, bleibt unter ihnen erst mal im Ahnungslos-Offenen, bekommt aber doch eine thematische Richtung. Feldman ist auf der Suche nach einer „Quintessenz“ des Beckettschen Werkes, nach „etwas in der Schwebe“, nicht jedoch nach einem konkret vertonbaren Stück, denn alles, was er bisher von Beckett gelesen habe, sei ohnehin ohne Musik zugänglich. Beckett beschreibt diese Quintessenz, sein Lebensthema, dann unerwartet plötzlich so: „Hin und her im Schatten, vom äußeren Schatten in den inneren Schatten. Hin und her zwischen unerreichbarem Ich und unerreichbarem Nicht-Ich.“ Einen Anfang, den er Feldman wenig später in einem nur 87 Wörter langen Text leicht modifiziert mit dem Titel Neither, auf Deutsch Weder, zusendet. In ihm geht es um diesen Übergangszustand des Weder, „hin und her in Schatten von innerem zu äußerem Schatten – von undurchdringlichem Selbst zu undurchdringlichem Unselbst durch weder“. Strukturiert ist der Text ohne Interpunktion in 10 Teile, die durch Gedankenstriche in Absätzen voneinander abgegrenzt sind, ein Text ohne konkretes Subjekt und Handlung. Feldman schreibt dazu eine seiner typischen mäandernden Musiken mit ihrer enormen hypnotischen Sogwirkung, ganz leise, fast ohne Ausbrüche, scheinbar ohne Anfang und Ende. Mit einer Spielzeit von rund einer Stunde ist das Werk für Feldmansche Verhältnisse recht kurz. Der Beckett-Text ist im Kontext der Musik nicht verständlich, man hört nur langgezogene Vokale bis hin zum Schrei, der Gesang der Sopranistin ist vollständig in die orchestrale Textur integriert. Im Sommer 1977 erlebt die Arbeit an der römischen Oper ihre Uraufführung und ist seitdem einigermaßen kontinuierlich auf den Spielplänen vertreten. Allen Aversionen zum Trotz: Feldman nennt Neither im Untertitel eine Oper für Sopran und Orchester, es ist somit eine Revolution im Rahmen der Konvention.

Wie Romeo Castellucci als Regisseur der Neuinszenierung der Ruhrtriennale auf diesen auf Grundfragen des Selbstbewusstseins zielenden Text reagiert, ist so überraschend unerwartet wie berührend und überwältigend. Dem Abstrakt-Reflexiven setzt er verrätselte Handlungsbilder entgegen, eine lose verbundene Folge von Szenen, die zum einen vom Wort Neither ausgehen, zum anderen aber auf den oft bedrohlich-atmosphärischen Charakter der Musik hören. Castellucci beginnt mit einer szenischen Darstellung von Schrödingers Katzen-Theorem aus dem Jahre 1935, das eine Aufhebung der Dualität im Bereich der Quantenphysik erläutert. Ihm zufolge kann sich eine Katze innerhalb einer bestimmten Versuchsanordnung in einem Überlagerungsbereich von tot und lebendig befinden, also gewissermaßen beides zugleich sein. Erst durch das Ende des Experiments wäre feststellbar, welches Ende es für die Katze genommen hat. In Castelluccis Inszenierung endet es sowohl lebendig als auch tot mit einer lebendigen Katze und einem Katzenkadaver, die sich am Ende in Schrödingers Experimentalbox befinden. Dem folgt eine Reihe von Szenen, die aus dem Bildvokabuklar des amerikanischen Filmkrimis der 1940-er Jahre gespeist sind. Es sind Bedrohungs-, Mord- und Entführungsszenarien, bei denen es jedoch im Unbestimmten bleibt, wer hier der Gute und der Böse ist, wer Täter und wer Opfer; die Rollen von Polizist oder Gangster verschwimmen im Ununterscheidbaren. Einige Szenen werden mit verschiedenen Enden durchgespielt und so ebenfalls ins Unfeststellbare geführt, allesamt bildgewaltige Kurzhandlungen ohne präzis feststellbaren Kern. Andere Bilder entstammen der Welt des Traums. Man trifft etwa auf ein aus dem Dunkel auftauchendes, schwarzes Dressurpferd, das sich nach allen Regeln dieser Kunst präsentiert oder auf einen schwarzen Hund als Partner der Sängerin.

Der Abend endet, ja, kulminiert in einer Szene, in der eine veritable Dampflok begleitet von einem Trupp von Bahnarbeitern mit Grubenlampen – somit ganz passend zum Ort und Kontext der Bochumer Jahrhunderthalle – langsam aber unaufhaltsam auf das Publikum zufährt. Das Publikum kann mit einem coup de theâtre zurückweichen, man kennt die mobile Zuschauertribüne schon aus der Bernd Alois Zimmermanns Die Soldaten -Inszenierung. Doch die Inszenierung endet trotzdem in Schrecken, die hier nicht weiter beschrieben werden sollen, um potenziellen Besuchern nicht die Schlusspointe zu rauben.

Die Lichtregie von Romeo Castelluci und Giulio Bernardi übernimmt kongenial die Charakteristik von Text und Musik, denn die Aufführung ist auch optisch elementar charakterisiert durch Licht und Schatten, durch immens ausgearbeitete Hell-Dunkel-Effekte. Besonders impressive Momente erzeugen zwei mit Kränen über der Jahrhunderthalle gesteuerte Riesenscheinwerfer, die ein geheimnisvolles Licht in der Halle erzeugen. Die Schatten der gläsernen Dachstruktur werfen ein bewegliches Muster, ein sich stets im Fluss befindliches Gewebe auf dem Boden, es entstehen schier unwahrscheinliche Schattierungen von schwarz zu grau. Kein Aufwand also wird gescheut, doch steht er immer unter der Leitidee der Kernbegriffe von Neither, von Schatten und Gewebe. Wirkungsvoll ist das auch für die Regie: Personen, Tiere und Gegenstände kommen aus dem Dunkel und Verschwinden in ihm, „vor und zurück gelockt und abgewiesen“, wie es im Text heißt.

Die Duisburger Symphoniker, inzwischen quasi Stammorchester der Ruhrtriennale, sind rechts neben der Spielfläche positioniert. Unter der Leitung von Emilio Pomàrico, als Herausgeber der Neither-Partitur und langjähriger Interpret Feldmans einer der intimsten Kenner des Werkes, sorgen für eine einfühlsame, so zarte wie intensive Darstellung, die sich jederzeit neben der Kraft der Bilder behaupten kann. Auch die Sopranistin Laura Aikin ist eine erfahrene Feldman-Interpretin, die diesen Kraftakt erneut mit Bravour meistert. Nach einigen Minuten der Besinnung: Große Begeisterung beim Publikum.

Dirk Ufermann

Fotos: Stephan Glagla