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Fakten zur Aufführung 

I AM
(Lemi Ponifasio/Mau)
28. August 2012
(Deutsche Erstaufführung)

Ruhrtriennale,
Jahrhunderthalle Bochum


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Wenn die Zeit zu erstarren droht

An Geduld mangelt es dem samoanischen Choreografen, Regisseur und Musiker Lemi Ponifasio nicht. Mit unerschütterlicher Ruhe zelebriert er derzeit auf der Ruhrtriennale mit seinem neuen Stück I am ein „Requiem“, das stellenweise frisch aus der Gruft aufgestiegen zu sein scheint. In seinen besten Momenten grandios, dazwischen allerdings mit zähem Füllmaterial durchsetzt, das die Zeit zu versteinern droht.

Dass Ponifasio damit auch seinem Publikum eine Engelsgeduld abverlangt, hat er bereits vor zwei Jahren auf der Ruhrtriennale bewiesen. Mutete er ihm damals auf der 170 Meter langen Spielfläche der Duisburger Kraftzentrale Carl Orffs dreistündiges Musiktheater Prometheus in altgriechischer Sprache ohne Übertitel und Pause zu, fasst er sich in I am zwar kürzer, aber nicht weniger streng und abweisend.

Grabesstimmung verbreitet sich in der dunkel ausgelegten Bochumer Jahrhunderthalle, wenn Ponifasio mit den 31 meist schwarz gekleideten Tänzern der Mau-Truppe in eisern durchgehaltenen Schneckentempi ein Requiem von archaischer Größe anstimmt. Ursprünglich war an eine Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg gedacht. Davon finden sich in der ersten halben Stunde des knapp zweistündigen Stücks noch einige Spuren. Eine verkratzte Platte mit einer blechernen Fassung des Deutschland-Lieds erfüllt zwei von einer dunklen Mauer umgebene Figuren mit sichtlichem Stolz. Zu einem ausgedehnten Gebet in der Sprache der Maori, vorgetragen in einer sich langsam zuspitzenden Spirale expressiver Ausdruckskraft, wandeln schattenhafte Gestalten wie in imaginären Schützengräben und Totengräber mit schwarzen Särgen an der Wand entlang. Eine eindrucksvolle Szene, der dann ein Mix folgt, das die Kriegsassoziationen mythisch ausweitet.

Zwei Männer bekriegen sich mit rituell verbrämter Brutalität wie einst Kain und Abel. Ein androgyner Engel wird von den Menschen verspottet und misshandelt. Richtig spannend wird es erst am Ende wieder, wenn auf der Bühnenschräge ein kraftvoller Jesus am Kreuz hängt und sich mit unbändiger Wut loszureißen versucht. Lange Zeit ohne Erfolg, wobei eine suggestive Video-Sequenz die ganze Jahrhunderthalle durch mächtige Sturzfluten zu ertränken scheint. All das zu einem ornamentreichen islamischen Gebet und im Angesicht eines Beobachters, der zu einem stilisierten, sich frappierend echt bewegenden „Affen“ mutiert, der den Messias mit Eiern bewirft. Was sich wie ein billiger Gag liest, entfaltet in der genialen Choreografie Ponifasios geradezu magische Größe. Zwischen den starken Eckszenen verliert sich das restliche Geschehen leider im allzu Beliebigen.

Angesichts der monotonen Bewegungsabläufe, die nur selten von dynamischen Ausbrüchen unterbrochen werden, und der zwar von Ponifasio und Marc Chesterman geschickt gemischten elektronischen, aber dennoch recht einheitlichen Klanglandschaften kann die Kreation aus der Dunkelkammer zähe Längen nicht immer vermeiden. Nicht jeder Zuschauer in der voll besetzten Jahrhunderthalle hält die Nervenprobe durch, und etliche verlassen vorzeitig das Spektakel.

Das multilinguale Textbuch vereint Texte und Gebete in samoanischer, maorischer, arabischer, kiribatischer, javanesischer, französischer und englischer Sprache. Nichts wird übertitelt oder übersetzt, was das Verständnis nicht gerade erleichtert. Allein aus der Darstellung und der Diktion der Sprecher den Sinn der Texte zu schließen, dafür ist der musikalische Radius der Klangkulisse zu eng. In dieser Hinsicht wiederholt sich der Eindruck von dem im Grunde grandiosen Prometheus-Projekt, das jedoch um einen Teil seiner Wirkung gebracht wird, wenn man kein Wort versteht. Damit steht Ponifasio in der augenblicklich von Heiner Goebbels gesteuerten Phase der Ruhrtriennale nicht allein. Goebbels scheint unerschöpfliches Vertrauen in die Sprachkenntnisse oder die Vorstellungskraft seines Publikums zu setzen.

Es beeindruckt, mit welcher Souveränität, welcher Konzentration und welch grenzenlos physischer Energie die Tänzer alle Sequenzen der Szenenfolge umsetzen. Um das Ensemble zu einem solchen Kraftakt und zu dieser Homogenität führen zu können, bedarf es freilich des Charismas einer Bühnenpersönlichkeit vom Format Lemi Ponifasios.

Dennoch hinterlässt das ganze Projekt einen eher zwiespältigen Eindruck. Geniale Blitzlichter und monotoner Leerlauf gehen keine allzu glückliche Symbiose ein. Freundlicher Beifall eines sichtlich erschöpften Publikums.

Pedro Obiera

Fotos: Jörg Baumann