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Fakten zur Aufführung 

PELLÈAS ET MÉLISANDE
(Claude Debussy)
17. September 2015
(Premiere am 10. Oktober 2004)

Deutsche Oper Berlin


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Dans le bateau

Zur Uraufführung seiner Oper Pelléas et Mélisande 1902 gab Claude Debussy den Solisten einen Rat: Sie mögen vergessen, dass sie Sänger sind. Die Solisten der Inszenierung von Marco Arturo Marelli an der Deutschen Oper Berlin halten sich nicht daran. Sie singen an diesem Abend, in der zweiten Vorstellung der Wiederaufnahme nach vier Jahren, mit gewohnt ausdrucksvoller Stimmkultur. Trotzdem,  oder besser gesagt gleichzeitig, sind sie aber auch Protagonisten von Debussys Vorstellung, wie eine Oper nach Richard Wagner klingen und wie sie musikalisch erzählt werden sollte.

Debussy suchte nach neuen Formen, Libretto und Komposition von ihrer narrativen Funktionalität zu befreien. Ihn interessierte nicht, Texte durch eine musikalische Dramaturgie hör- und verstehbar zu machen. In dem gleichnamigen Theaterstück von Maurice Maeterlinck fand er den Text, der ihm für sein Vorhaben geeignet erschien. Maeterlincks symbolistische Sprache, mit der er dem tiefen Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen hoffte, besitzt jene von Debussy antizipierte, konstruktive Offenheit, um die zwischen und hinter den Worten liegenden Seelenlandschaften durch Musik ahnen zu lassen. Nicht Narration, sondern mit Musik die Seele hinter den Worten aufscheinen zu lassen. „Wenn die Worte verstummen, sprechen die Seelen“, wird Marelli zitiert. Dieses Statement ist ihm für seine opulente Inszenierung Maß und Lot.

Die Geschichte von Pelléas et Mélisande ist auf den ersten Blick nicht mehr als eine Variation einer beliebigen Dreiecksgeschichte. Zwei Brüder, Golaud und Pelléas, lieben dieselbe Frau, Mélisande, eine Femme fragile. Golaud, der nach Arkels, des Patriarchen, Willen das Bestehende nach seinem Tod fortführen soll, tötet seinen Bruder. Aber nicht Eifersucht allein ist Grund und Motiv. Mélisandeund er haben sich als verlorene Seelen getroffen. Ihre Heirat ist ein Versprechen für die Zukunft. Aber Liebe ist es nicht. Seine Verzweiflung, dass er trotz allem unglücklich bleibt, lässt ihm angesichts der unbedingten poetischen Liebe als des Schönen von PelléasundMélisande zum Mörder werden.

Am Ende resümiert Arkel, der bis dahin eine lebendige Zukunft für seine Familie verhindert und blockiert hat, altersweise geläutert: „Wir müssen leise sein. Die menschliche Seele ist sehr schweigsam.“ Körperlich vom Gebrechen des Alters gezeichnet, klarsichtig, wenn auch zu spät, ist er nur mehr ein einsamer Rufer in der Wüste.

Debussys Komposition formt musikalisch keine pragmatische Erzähllogik. Sie sucht nach symbolistischen Assoziationsebenen, die die Kräfte hinter der menschlichen Seele bewegen. So konzeptionell und programmatisch justiert, müssen die Solisten ihre Opernsängernormalität, in der sie das Libretto singend erzählen, vergessen und sich in Klangfarbenmalerei üben.

In Marellis Wasser gefluteter Bühne keine einfache Aufgabe. Theaterbretter, die in der Regel verlässlich Standsicherheit geben, hier häufig eingetauscht gegen das instabile Wasser, fordern zusätzlich physische Balance- und sängerische Ausdruckskraft.

Marelli hat Pelléas et Mélisande als Seelenlandschaftsoper aus einer Hand inszeniert. Wasser, Urstoff des Lebens, dunkel und hell Licht reflektierend, von Nebel eingehüllt, ist materialer Bühnenmittelpunkt und Metapher in der von vielen so bezeichneten ersten Literaturoper, Drame lyrique, zugleich.

Er beleuchtet die von ihm entworfene Bühne, die an Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel erinnert, mit blauem Licht. Das Schloss Allemonde, ein am Wasser gelegener Irgendwo-Überall-Ort, in fahles Licht getaucht, umstellt von grauen Fassenden, ist ein zeitloser, von Todeshauch verpesteter Gespensterort. Ohne Liebe dämmern mehrere Generationen der Arkel-Familie dumpf vor sich hin.

Schon in der ersten Szene wird die symbolistische Struktur von Maeterlincks Text und Debussys Musik beispielhaft für alle folgenden Szenen vorgeführt. Das Wort funktioniert nicht  in Form von dialogischem Fragen und Antworten. Fragen werden nicht unbedingt handlungsorientiert und konkret beantwortet. Der auf die Frage folgende Satz ist in den meisten Fällen Stichwort für eine nächste Seelen-Sequenz.

Szenenwechsel werden durch parallel zum sich seitlich schließenden oder öffnenden Vorhang durch eine von oben hinter dem Vorhang gleichzeitig senkende Stoffbahn wie in einem Stummfilm ab- und eingeblendet. Die Szenen reihen sich in den fünf Akten aneinander.

Vor geschlossener Bühne  spielt das Orchester der Deutschen Oper unter Donald Runnicles klangmalerisch phrasierend weiter. RunniclesDirigat wahrt den Modulationscharakter der klanglichen Motive und entgeht der Gefahr, sie im Fahrwasser Wagners zu verwässern.

Josef Wagner sucht in dem gebrochenen Charakter Golauds nach den Zwischentönen, die ihn als Mörder wider Willen zeigen. Nuancen seines Fragens nach der Wahrheit in der Liebe sowie auch Brutalität und Demütigung Mélisandes malt sein Bariton charaktervoll. Mélisande ist bei der Sopranistin Jana Kurucova in besten Händen. Kindlich naiv leuchtet ihre Stimme inmitten der dunklen Allemonde-Welt.  Von Golaud tödlich verletzt, stirbt sie nach der Geburt ihres Kindes. Von sechs madonnenhaften, jungen Frauen wird sie in einem Boot von der Toteninsel Allemonde befreit. Im Bühnenhintergrund öffnet sich in der grauen Tristesse ein heller Horizont. Tot und doch lebendig. Ein eindrucksvolles Bild, das im Gedächtnis bleibt. Mélisande in einem weißen Kleid im Kahn stehend, gleitet dem Licht entgegen. Dann schließt sich das Licht-Tor wieder.

Mit Boot und Wasser hat Marelli ein Gleichnis für seine Inszenierung gefunden, die auch Thomas Bondelle für die Gestaltung des Pelléas in einer Mischung aus Unschuld, Träumerei und Schicksal eindrucksvoll zu nutzen versteht. Sein Tenor klingt lyrisch silbern wie auch wehklagend rau. Zusammen mit Jana Kurucovaund Josef Wagner sind sie Sängerschauspieler, die Debussys Musik-Pointillismus eine stimmige Farbigkeit geben.

Dem Bassisten Stephen Bronk gelingt mit Arkel eine überzeugende Rollengestaltung eines selbstgerechten Greises, der die Chance vergibt, seinen Nachfahren eine lichtere Zukunft zu ermöglichen. Offensive Demonstration seiner Macht, die das Boot am Ufer kieloben verankert.

In den minutenlangen Pausen zwischen den Akten schweigt das Orchester. Nicht so das Publikum. Begleitet von deutlichen Umbaugeräuschen, von vermehrtem Husten und Räuspern bis zu lautem Erzählen, verliert sich das Debussysche Fluidum von Pelléas et Mélisande mit jeder Pause.

Zaghafte Applausversuche schon nach dem vierten Akt, als wäre es bis dahin  schon genug. Am Ende dann lebhafter, aber kein überschäumender Beifall für Solisten, Dirigent und Orchester.

Als hätte Marellis Wasser-Inszenierung dem schwül warmen Spätsommertag zum Handeln bewogen, fallen schon zur Pause dicke Regentropfen aufs Berliner Pflaster. Eines Rettungsbootes bedarf es nicht, um sich vor der Allemonde-Schreckens-Flut in Sicherheit zu bringen.

Peter E. Rytz

Fotos: Bettina Stöß