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Fakten zur Aufführung 

DER RING DES NIBELUNGEN
(Richard Wagner)
9. bis 14. August 2015
(Premiere Juli 2013)

Bayreuther Festspiele


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

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Ölverschmierter Ring

Wer sich mit Friedrich Nietzsches Behauptung aus Unzeitgemäße Betrachtungen – „Alles, was besteht, muss untergehen, das ist das ewige Gesetz der Natur“ – auf den Weg nach Bayreuth macht, um in Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen die Nagelprobe auf das Leben zu machen, wird es nicht leicht haben.

Das hat sachliche und subjektive Gründe. Wagner hat den Ring von hinten, von der Götterdämmerung her komponiert. Erst später hat sich die Reihenfolge als Bühnenfestspiel für drei Tage – Die Walküre, Siegfried, Götterdämmerung - und einen Rheingold-Vorabend ergeben. Das Ring-Elaborat zu entwirren, bleibt eine Herkulesaufgabe.

Neben den Sachgründen ist jede Inszenierung von der Handschrift des Regisseurs geprägt. Schon Claude Debussy hat in einem Brief an Monsieur Croche nach einem Bayreuther Ring-Besuch verstört festgestellt: „Man kann sich nur schwer die Verfassung vorstellen, in der sich selbst das robusteste Hirn beim Anhören der vier Ring-Abende befindet.“

Mit der Inszenierung von Frank Castorf – von 2013 bis 2016 der Bayreuther Ring – sind multi-optionale Wahrnehmungsfähigkeiten gefordert, verbunden mit der Bereitschaft, sozial utopische respektive sozialistische Perspektiven in Kontexten unterschiedlicher Geschichtsschreibungen und künstlerischer Ausdrucksformen der Moderne zu reflektieren.

Der Ring des Nibelungen ist von vornherein kein abendlicher Kulturhappen nach den Mühen des Tages. 16 Stunden Musik sind nicht einfach so konsumierbar. Sie sind nicht nur  ein mehrtätiges Rezeptions-Projekt für Ohren und Augen, für Verstand und Unverstand, für Gefühle und Emotionen. Die Raumkapsel Ring landet jeden Abend in der Alltagswelt, um am nächsten Tag – oder nach eintägiger Pause – wieder in den Wagner-Kosmos auf- oder auch abzusteigen. Derweil geht der ganz normale Wahnsinn des Alltags weiter.

Ein amerikanischer Bomberpilot rettet sich an jenem Tag nahe Bayreuth mit dem Schleudersitz aus seinem abstürzenden Jet, als im Festspielhaus Die Walküre über die Bühne geht. Stunden vor der Siegfried-Aufführung melden die Nachrichtenagenturen, dass der aserbaidschanische Regierungschef Journalisten, die seine diktatorischen Praktiken im Internet veröffentlicht haben, verhaften ließ. Beim Ausstellungsbesuch von „George Grosz – Alltag und Bühne“ im Kunstmuseum Bayreuth vor der Götterdämmerung wird vor der Federzeichnung Wagner Oper von 1924 deutlich, wie die Zeit unsere Perzeption verändert hat.

August 2015 – Kein Grün auf den Wiesen vor dem Festspielhaus Bayreuth. Nur die Blumenrabatten leuchten aus dem sonnengebleichten Gras hervor. Sonnenverbrannt auch viele Besucher. Sommersonnenflächenbrand, bis in das Haus hinein reichend. Hier hilft auch kein Rheinwasser, selbst wenn es aus Wagners Das Rheingold flösse.

Vom Sonnenlicht beleuchtet, blinkt der Goldschatz vom Grunde des Rheins. Anders als in Friedrich Schillers Der Taucher taucht Alberich nur einmal, um das Beutepfand Das Rheingold sich zu sichern, es zu rauben. Damit ist ein Unglück bringender Schatz in die Welt gehoben.

Das Verderben nimmt seinen Lauf: Macht erkauft mit Liebesverzicht. Ein Sieg mit roher Gewalt durch Selbsttäuschung gewonnen. Mit ihm ist die Katastrophe schon vorprogrammiert. „Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfangs, den wir gerade noch ertragen“. Rainer Maria Rilkes Diktum in der Ersten Duineser Elegie ist ein Spiegel, der das verborgene Gold als Zerrbild aufscheinen lässt.

Die einmal entzündete Brandfackel des verfluchten Ringes von Das Rheingold wird von Walküre und Siegfried weiter am Brennen gehalten, bis in der Götterdämmerung das Haus bis auf die Grundmauer niedergebrannt sein wird. Brandtrümmer auf Brandtrümmer legen Schicht für Schicht den Fluch von Machtgier frei. Das geborgene Rheingold wird am Ende die Welt aus den Fugen gehoben haben. Selbst viele Tränen reichen dann nicht mehr aus, den Brand zu löschen.

Das Rheingold

Die Besucher im Festspielhaus sitzen, Gefangenen gleich, wie in selbstverschuldeter Unmündigkeit auf den harten Büßerstühlen. Die Füße gegen den Holzfußboden gestemmt, mit dem Programmheft Frischluft wedelnd, vergeblich auf erlösende Erfrischung hoffend, kein Entkommen, nirgends. Keine Eindämmung des Hitzebrandes, eher noch seine Beschleunigung. Das Publikum ist Zeuge und verantwortlich zugleich für die einsetzende Brandbeschleunigung. Einzelne japanische Besucher üben sich in vornehmer Zurückhaltung. Mit geschlossenem, schwarzem Anzug zeigen sie Disziplin.

Wirklichkeit, Wahn und Traum mischend, eignet sich Frank Castorf mit seiner Inszenierung Richard Wagners Musik an und biegt sie sich als Filmmusik für seinen eigenen Film zu recht. Im Swimmingpool des Golden Motel, irgendwo im mittleren Westen der USA an der Route 66 langweilen sich drei Marilyn-Monroe-Verschnitt-Frauen mit Aperitifs und Bratwurst.

Aleksandar Denić hatte offenbar viele Bilder von Edward Hopper gesehen. Seine Drehbühne zitiert Hoppers Nighthawks und Gas mit jeder Drehung aufs Neue.

Aus Wim Wenders Film Paris, Texas den Rhythmus geliehen; den gesellschaftskritischen Unterton aus Clockwork Orange von Stanley Kubrick und aus Lost Highway von David Lynch eine surrealistische Bildsprache bemüht; aus dem Dogma-95-Manifest von Lars von Trier und Thomas Vinterberg die Handkamera geborgt. Alles zusammen hat Castorf zu einer eklektizistischen Bilderflut zusammen gerührt. Aktionistisches Toben mit Glasbruch-Ping-Pong und blutigen Gewaltexzessen inklusive. Um das alles ins Bild zu setzen, haben sich die Videospezialisten Andreas Deinert und Jens Crull alle Mühe gegeben, mit Castorf auf Augenhöhe zu agieren.

Als Live-Video auf einen Screen über der Bühne projiziert, verdampft Wagners Das Rheingold allerdings zu einem trashigen Bild-Film-Musik-Konvolut. Das Auge ist ständig damit beschäftigt, die Bilder auf der Bühne mit denen in den Räumen des Motels und im Tankstellenshop zu koordinieren. Es will schon nach kurzer Zeit nicht gelingen. Gleichzeitig absorbiert der Castorf-Trash einen großen Teil der Konzentrationsenergie. Erschreckt stellt man fest, dass die Musik dahinter zu verschwinden droht.

Aber selbst wiederholte Versuche, sich dezidiert auf die Musik und den Gesang zu konzentrieren, kapitulieren vor Castorfs monströser Rheingold-Zertrümmerung. Seine filmische Bildererzählung plündert Wagners Oper. Da ihm die in ihr enthaltenen Bildangebote offenbar nicht ausreichten, muss ein südosteuropäisch aussehender Tankstellenshop-Besitzer als subproletarischer Protagonist in der Tristesse eines mittelamerikanischen Irgendwo noch den dienstbeflissenen Deppen geben, um die gesellschaftskritische Schraube festzudrehen. Überdreht, verdreht, gedreht – allein dem Bild verpflichtet: Dem Kapitalismus eins auf die reichlich strapazierte Mütze. 
Castorf handelt frei nach dem Motto, Wagners Hoffärtigkeit sei eine Herausforderung, die nur durch Überbietung entlarvt werden kann. Und im Überbieten gewohnter Perspektiven macht ihm so schnell keiner etwas vor.

Seine Rheingold-Inszenierung ist eine perspektivische Verdrehung. Musik und Gesang sind zur Filmmusik verdammt. Die Solisten, alle durchweg exzellente Sänger-Schauspieler, folgen einer dramaturgischen Personenführung, die letztlich wie eine musikalische Zwangsjacke fungiert. Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Anna Lapkovskaja geben als Woglinde, Wellgunde und Floßhilde das erotische Blondchen, die Lockvögel wie in einem Swingerclub mit angeschlossenem Swimmingpool.

Selbst ein so gestandener Sänger wie Albert Dohmen als Alberich hat anfangs Schwierigkeiten, sein laszives Liegestuhlräkeln bis zum diebischen Gewaltakt sängerisch mit den spielerischen Vorgaben in eine Balance zu bringen. Als betrogener Betrüger fragend Bin ich jetzt frei? singt er sich endgültig mit seinem temperierten Bariton ins Freie. Zusammen mit Mime, von Andreas Conrad chaplinesk gestaltet, werden sie von Castorf durch die Motel-Tankstelle gejagt, die von den Bösewichtern Fafner und Fasolt, die geradewegs aus Truman Capotes Roman Kaltblütig entstiegen sein könnten, gewalttätig in Besitz genommen. Wilhelm Schwinghammer und Andreas Hörl könnte man sich in einer entsprechenden Verfilmung gut vorstellen. Das Rheingold als Casting für einen nächsten Castorf-Film wäre ein zu billiges Understatement. Schwinghammers und Hörls Bässe haben Besseres verdient.

Wolfgang Kochs Bariton ist eigentlich wie maßgeschneidert für einen kraftvollen Wotan. Zusammen mit John Daszaks Loge sind sie bei Castorf ein Gaunerpaar, die vor allem mimisch und gestisch ins Videobild gesetzt werden. Sie müssen sich wie alle anderen Solisten erst nach und nach ihren Raum als Sänger neben dem Schauspieler schaffen. Daszak gelingt das als feuerzeugspielender und spiegelnder Loge auch stimmlich überzeugender als Kochs Wotan.

Neben den soliden Partien von Daniel Schmutzhard und Lothar Odinius als Donner und Froh wird ihre Schwester Freia als Double von Uma Thurman aus Quentin Tarantinos Film Kill Bill zwischen den Gewalten hin und her gezerrt. Allison Oakes ist damit allerdings so beschäftigt, dass ihr Sopran nur selten Aufmerksamkeit gewinnen kann.

Fricka wird in dieser amerikanischen Macho-Cowboy-Welt in den Hintergrund gedrängt. Claudia Mahnke sucht, sich am Anfang dagegen zu wehren. Brillant perlt ihr Mezzosopran; später weist die Regie sie immer weiter in den Hintergrund. Nur manchmal meldet sie sich mit differenzierten Untertönen zurück. Die, würden sie nicht vom Trash übertönt, viel mehr von ihrer überragenden Stimmgebung hörbar machten.

Im Gegensatz zu den von Castorf trainierten solistischen Dauerläufern ist Nadine Weissmanns Erda wie eine Referenz an das Operntheater zu Wagners Zeiten. In statuarischer Präsenz einer grande dame liest sie Wotan mit kraftvoll gestimmtem Alt die Leviten.

Am Ende gibt es überwältigenden Applaus. Bravi und Fußgetrappel bringen das Festspielhaus ins Schwingen. Jeder Solist wird gleichermaßen enthusiastisch gefeiert. Kaum Luftstärkeunterschiede feststellbar. Erst als Kirill Petrenko die Bühne betritt, nimmt die Begeisterung zu Recht noch einmal deutlich Fahrt auf.

Die Walküre

Wagner war als Komponist Romantiker mit revolutionären Ambitionen. Castorf ist als Regisseur Realist mit Kassandra-Neigung. Die Betreiber des Souvenirladens vor dem Festspielhaus sind Verkäufer mit dem Gespür für die kleinen Sehnsüchte vor dem großen Ring-Spektakel. Bevor der Walkürenritt vom Orchester der Bayreuther Festspiele 2015 unter der inspirierenden Leitung des feinsinnigen Petrenko erklingt, plärrt und dudelt er im Sonnenschein vor sich hin. Wer sich für eine klingende Wagner-Tüte interessiert und sie öffnet, wird mit dem massentauglichen  Walkürenritt-Verschnitt beglückt. Ungefragt die Umstehenden gleich noch mit.

Hatte Castorf in Das Rheingold eine amerikanisch vergoldete Öl-Spur gelegt, die mit Tankstelle und dem Golden Motel Mobilität als Symbol unbegrenzter Freiheit verhieß, wendet er sich in Die Walküre in russisch- aserbaidschanischer Perspektive gen Osten, der Öl-Drecksarbeit zu. Wer schwarzes Gold besitzt, kann sich auch goldene Hütten bauen. Man muss es nur haben, um den Ring zu schmieden, der andere an die Kandare nimmt.

Wagner hat dazu mit Der Ring des Nibelungen Mythologien und Märchen befragt sowie die eigene Phantasie genutzt, um nach seinem gescheiterten Revoluzzertum in der Kunst nach Handlungsoptionen zu suchen. In einem Brief an Liszt schreibt er: „Die Kunst fängt genau da an, wo das Leben aufhört, wo nichts mehr gegenwärtig ist, da rufen wir in der Kunst: ich wünschte …“

Castorf recherchiert und analysiert nüchtern die Historie. Wollen und Wünschen, sollen sie nicht im Konjunktiv trostlos verkümmern, brauchen einen Realitätsabgleich. Warum ist die Welt, wie sie ist? Welche Machtstrategien haben die Gegenwart geschaffen? Welcher Zukunft streben die Mächtigen zu?

Wagners Wotan ist dabei in einer misslichen Situation. Solange Fafner den Ring besitzt, fühlt er sich bedroht. Aber sein göttlicher Status verbietet ihm, selbst aktiv zu werden. Ein Freier, ein Reinmenschlicher muss her. Die von ihm mit einer Menschfrau gezeugten Zwillinge Sieglinde und Siegmund sind sein strategisches Unterpfand. Dass es dann doch nicht so glatt läuft, ist dem geschuldet, was Freud als Das Unbehagen in der Kultur ausgemacht hat. Jede Taktik, die Unmoral durch Scheinmoral zu legitimieren versucht, endet irgendwann im Desaster.

Bei Castorf ist Wotan ein flexibler Taktiker auf dem Hintergrund einer historischen Folie. Die von Aleksandar Denić  mit technischer Raffinesse gebaute Drehbühne zeigt eine Erdöl-Förderanlage mit angeschlossener Wohnung, auf deren Rückseite ein riesiges Holzbrettertor Zugang zu den dunklen Arbeitshöhlen öffnet. Wie in den industriellen Gründerzeiten liegt die Unternehmervilla aus praktischen Gründen unmittelbar neben den Arbeitsstätten. Ort satten, bürgerlichen Wohlstands neben erdverbundenem, proletarischem Arbeitsort.

Von Hundigs Wohnung aus nimmt die Katharsis ihren Lauf. Der Truthahn im Laufgitter in der Ecke: Lebendiger Bürgerstolz und  Brücke zum amerikanischen Rheingold-Vorlauf. 

Sieglinde und Siegmund entdecken sich als Geschwister, doch nicht die ihnen von Wotan zugedachte Funktion in seiner Strategie.  Anja Kampe und Johan Botha singen in brillanter, ausdrucksstarker Artikulation und Distinktion. Kampes expressiv akzentuierender Sopran und Bothas silbern schillernder Tenor schaffen eine authentische Dramatik von ungewöhnlicher Klangschönheit. Sie werden zur ersten Pause mit frenetischem Jubel gefeiert.

Hunding trägt Zylinder und Frack im Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Unternehmers. Kwangchul Youn singt mit einem drohenden Bass, der gewohnt ist, Befehle laut und unwidersprochen zu erteilen. Er glaubt sich auf sicherem Terrain. Ahnungsvoll von der Jagd mit einem aufgespießten Herren-Kopf und wachen Auges eintretend, wird auch er unbemerkt zu einer Schachfigur in Wotans Machtspiel.

Den ersten Aufzug inszeniert Castorf mit der revolutionären Attitüde Sieg. Während sich Hunding Gewissheit verschafft, wie es um Sieglinde und Siegmund steht, werden oberhalb des seitlichen Randes der Bühne Filmsequenzen aus Sergej Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin von 1905 sowie aus Tschapajew der Gebrüder Wasilijew von 1934 projiziert. In der Pause werden sich einige Besucher beklagen, dass sie von ihrem Sitz aus nichts gesehen haben.

Tschapajew, der legendäre  Held des russischen Bürgerkrieges vor der Oktoberrevolution, ist Castorfs politischer Revolutionsgarant. Mit Prawda – Sieg – ist das Titelblatt einer Zeitung eingeblendet, das mit einem Mao-Foto bekräftigt wird.

Damit ist die taktische Ausgangslage abgesteckt. Wotan gibt sie mit revolutionärem Vollbart an seine Vorkämpfer-Tochter Brünnhilde weiter. Mit baritonaler Emphase gibt Wolfgang Koch dem Wotan hier einen romantisch verklärten Ton.

Fricka durchkreuzt diese Planspiele. Claudia Mahnke spielt sie mit dramatischer, kraftvoll betonter Pose. Ihren Vorhaltungen gegen Wotan, die letztlich in einen Befehl münden, verleiht sie mit einer an das Gemäuer schlagende Perlenpeitsche unmissverständlichen Nachdruck.
Warum Castorf seine Video-Linie, sowohl mit Live-Kamera als auch mit Filmeinspielungen, im zweiten Aufzug verlässt, bleibt unklar. Man nimmt es aber durchaus dankbar als Atempause, um konzentriert der Musik ohne ablenkende Bilderflut zu lauschen. Nicht nur die wunderbare Klangkultur von Koch und Mahnke hat jetzt den entsprechenden Raum; insbesondere der von Petrenko perfektionierte Orchesterklang strömt in vollkommener Schönheit.

Da Wotans ursprünglicher Plan aufgrund von Brünnhildes Befehlsverweigerung nicht aufgeht, bleibt ihm nur die inzestuöse Hoffnung Siegfried. Brünnhilde wird zum Bauernopfer – verbannt, aber mit Hoffnung auf Befreiung. Catherine Fosters Sopran, variabel in den unterschiedlichen Konstellationen, in denen sich Brünnhilde immer wieder neu zurecht finden muss, hat dafür die stilsichere Dominanz in den Höhen wie in den verhaltenen Mittellagen.

Mit Castorf leuchtet wahrscheinlich erstmals der Sowjetstern im Festspielhaus, wie auch die in kyrillischer Schrift verfassten propagandistischen Imperative in Form von Zukunftsparolen, die vielen Besuchern vermutlich verschlossen bleiben. Aber nicht nur sprachliche Nachhilfe vermittelt Castorfs Inszenierung. Sie verweist auf revolutionäre Hoffnungen, die sich als Missverständnisse erweisen. Zumindest für jene, die auf eine bessere Zukunft hoffen.

Als der Feuerkranz Brünnhildes Verbannungsort umlodert, ist unterhalb des Feuers auf Aserbaidschanisch zu lesen: „20 SENTYABR NEFTÇİLƏR GÜNÜ“. In Baku, wo das schwarze Gold Stalins politische Macht protegierte, propagieren die auf Hundings Hausrückseite gepinselten Parolen wie „38 Millionen Tonnen von Erdöl und Gas im neuen Jahr“ oder „Gemeinsam Arbeiten und Lernen – wir widerstehen dem Faschismus und Hitler“ eine Zukunft in sozialistischer Einheit.

Mit „20 SENTYABR NEFTÇİLƏR GÜNÜ“ hat der aserbaidschanische Diktator vor einigen Jahren den 20. September als Feiertag der Ölarbeiter deklariert und sich damit selbst einen Kranz für seinen diktatorischen Machtanspruch geflochten. Vor dem Hintergrund dieser Fakten, Symbole und Metaphern mildert Wotan das absolute Verbannungsverbot gegenüber Brünnhilde ab. „Walküre bist du gewesen; nun sei fortan, was du so noch bist.“

Die Revolution ist zunächst nicht unbedingt gescheitert, aber sie ist ins Stocken geraten. Wotan genießt die momentane Macht mit Kaviar und Wodka. Vorerst, auf Zeit geborgt: „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“

Dass es immer wieder Versuche gegeben hat – und auch weiterhin geben wird – Gerechtigkeit zu gewinnen, ist mit Verlustangst jeder Macht verbunden. Deshalb sucht sie ständig neue, auch auswechselbare Verbündete. Verlierer sind immer die Gleichen.

Am Ende sitzt in Hundings Wohnung kein Truthahn mehr im Käfig. Der Rheingold-Tankstellenwart hat sich darin verkrochen. Prawda verheißt ihm das abschließende Live-Video. Worauf ist Verlass?

Siegfried

Nach dem revolutionären Walküren-Patt soll nach Wotans Strategie jetzt Siegfried die Göttermacht stabilisieren. Aber noch mehr: Im Besitz von Tarnkappe und Ring göttliche Macht für immer gewährleisten. Wotan als Wanderer, der Siegfrieds Kampfbereitschaft ständig im Auge behält, zieht die Strippen. Es muss nicht nur der in einen Schlangenwurm verwandelte Fafner beseitigt werden. Auch Mime, der ungeliebte Ziehvater Siegfrieds und Alberichs, gleich mit. 

Nach Siegfrieds  mörderischer Drecksarbeit geht Wotans Plan jedoch nicht auf. Die Liebe kommt dazwischen. Wenn auch von Schlangengezücht bedroht, finden die befreite Brünnhilde und Siegfried, der von ihr das Fürchten gelernt hat, zueinander. Gewiesen vom Waldvogel und der Wirkung des Bluts eines wilden Wurms, zerschmettert Siegfrieds Schwert Wotans Speer. Die Göttermacht ist für alle Zeit verloren.

In Castorfs Interpretation wird der Brechtsche Thespiskarren, zuerst aluminierter Wohnwagen aus amerikanischer Ortlosigkeit eines Golden Motels, über die russische Ölplattform mit dem schwarzen Gold jetzt auf den Berliner Alexanderplatz gezogen. Weltzeituhr, Fernsehturm, Kaufhaus, S- und U-Bahn-Zugänge assoziieren einen Shopping-Dealer-Drogen-Penner-Ort: Walhall modern. Beäugt von den revolutionären Stichwortgebern Marx, Lenin, Stalin und Mao.

Aleksandar Denić hat eine technisch aufwändige, aber variable, spielaktive Bühne gebaut, in der die übergroßen Köpfe, skulptural in Stein gemeißelt, bis in den Himmel reichend, weltfern und weltfremd zugleich, nur über steile Steigen zu erreichen sind. Der höchste Steig ist über ihre Köpfe gebaut. Er überwölbt Lenin, Stalin und Mao; endet aber vor Marx’ Kopf. Stalins Kopf ist in der Linie der drei abgesenkt. Während jenen mit jeder Wanderung symbolisch auf die Köpfe getreten wird, erreicht ein anderer Steig Marx nur bis auf Augenhöhe.

Unter ihren Augen schmiedet Siegfried sein Schwert. „Nothung! Nothung! Neidliches Schwert!“ Während er mit „Jetzt haftest du wieder im Heft“ fortfährt, setzt er in eine von ihm zusammen gebaute Kalaschnikow mit lautem Klick das Magazin ein.

Mime versucht, ihn zu vergiften. Wotan intrigiert, spielt Alberich gegen Mime aus. Über Lenins Antlitz geht hin und wieder ein flüchtiges Lächeln. Die anderen bleiben unbewegt, ungerührt, betonhart.

Für Castorf ist Wagners Libretto offenbar unvollständig. In Brechts Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters wird der Finger in die Wunden der Geschichte gelegt. „Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?“ Neben denen, die Macht verwalten und organisieren, bleiben diejenigen, die für sie ins Feuer geschickt werden, ungenannt. Castorf schickt seinen Assistenten und dramaturgischen Mitarbeiter Patric Seibert ins Feuer. Als Protagonist des Proletariats, der Dienstboten-Restgruppe, der politisch Sprachlosen agiert dieser seit Rheingold gestisch, aber sprachlos in den Szenen. Er ist neben den bunten, sich überlagernden Bilderfluten der narrative Verstärker im Castorf-Trash.

An einem Halsband angekettet, ist sein Bewegungskreis vorgegeben und eingeschränkt. Er stapelt Bücherberge auf und sucht heimlich im Kühlschrank nach Essbarem. Er macht Mime und Siegfried auf ausgewählte Lektüre aufmerksam. Doch die sind mit Handfesterem beschäftigt. Jetzt ist nicht die Zeit des Studiums, sondern die des Handelns und Ränkeschmiedens. Zu einem Haufen in hetzendem Arbeitstempo zusammengetragen, dienen Bücher Siegfried nur als Fidibus. Proletarier, bleib bei deinen Leisten!

Währenddessen befehden sich Mime und Siegfried sowie Wotan, der Wanderer, und Alberich nicht nur mit Worten. Stühle, Liegen, Tische werden umgeschmissen, landen krachend im Bühnenaufbau. Bevorzugt an den Stellen, wo in der Musik fortissimo gefordert ist. Klamotten werden vom Körper gerissen und effektvoll auf den Bühnenboden geworfen. Nicht nur Bilder gedoppelt, damit jeder versteht, scheint die inszenatorische Idee dahinter zu sein, auch der Musik muss auf die Sprünge geholfen werden.

Daneben ist Plastikmüll ein bevorzugtes, bedeutungsschwer aufgeladenes Spielmittel in der Inszenierung. Über dem toten Mime, den Siegfried mit einer Feuersalve aus der Kalaschnikow niederstreckt, leert er einen Müllsack. Einen guten Wächter geb‘ ich dir auch, dass er vor Dieben dich schützt.

In der Szene, in der der Waldvogel Siegfried das herrlichste Weib verspricht, er darauf mit „O holder Gesang! Süßester Hauch!“ antwortet, lässt Castorf die Musik anhalten. Siegfried kramt aus einem Abfallkübel Plastikschalen, verteilt sie um sich und intoniert auf ihnen die ausgesetzte Musik.

Die Inszenierung setzt punktuell auf Schock-Effekte, die aber keine mehr sind. In der Schlussszene des zweiten Aufzuges verheißt der Waldvogel Siegfried: „Die Braut gewinnt … nur wer das Fürchten nicht kennt.“ Siegfrieds Antwort „So wird mir der Weg gewiesen“, von Wagner mit dem dramaturgischen Hinweis „Der Vogel flattert auf, schwebt über Siegfried und fliegt davon“ versehen, übersetzt Castorf in eine per Video gedoppelte Kopulation von Waldvogel und Siegfried.

Der Waldvogel erinnert an die goldene Victoria der Westberliner Siegessäule und kommt als Goldelse herüber, um den Osten aufzumischen, Prostitution inklusive. Oder ist er eine erotische Begierden weckende Tänzerin des Ostberliner Balletts des Friedrichstadtpalastes?

„Was machen Vögel? – Sie vögeln.“ Lächelt eine ältere Dame in der Pause achselzuckend: Wie oft haben wir das auf der Bühne nun schon gesehen? Das ist an Beliebigkeit kaum noch zu überbieten.

Nach dem ersten Aufzug viel sommerliche Heiterkeit, vermischt mit eben so viel fragendem Kopfschütteln. Erstmals seit Rheingold sind vehemente Buh-Rufe zu vernehmen. Parallel sind Stimmen aus dem Publikum zu hören, die dagegen halten: „Die, die da so lauthals buhen, sind zu Hause brave Ehemänner, die ihre Freundin um die Ecke haben.“

Ob allein die Oral-Sex-Szene zwischen Wotan und Erda zu Beginn des dritten Aufzuges, von einem laut vernehmlichen Stöhnen im Publikum begleitet, für die überlauten Buh-Proteste am Schluss verantwortlich zu machen ist, ist nicht auszumachen.

Allein die Aneinanderreihung von szenischen Bildern mit DDR-Signets, die, wie in der Pause jemand infrage stellt, ob sie von Ausländern und Nicht-Insidern überhaupt verstanden werden können, steht in der Gefahr, sich bedeutungslos zu entleeren.

Minol-Tankstelle als nostalgische Verklärung genauso gut geeignet, wie für kalte kapitalistische Übernahme. Alexanderplatz mit Weltzeituhr als Vorzeigeort sozialistischer Gemeinschaft einst, heute eher sozialer Brennpunkt mit Touristen-Sicherheitsbedarf. Fernsehturm, ehemals gefeierte technische Ingenieurleistung sozialistischen Bauens, heute ein Unort mit Skater-Rampe und Fernsehturm-Beliebigkeit.

Schlussendlich findet Siegfried Brünnhilde nicht schlummernd im schattigen Tann, noch in einer Feuer umlohten Festung, in keinem Licht-Meer. Sie liegt unter einer dreckigen Plastikplane vor dem U-Bahnhof Alexanderplatz. Kletternd im Fels, nahe den in ihn gehauenen Köpfen der vier Heiligen der sozialistischen Revolution, die ihre martialische Form gegen eine comicartige, grafische Lineatur ausgetauscht haben, ist es, als wolle sich Siegfried für sein Liebesglück von ihnen Absolution für sein privates Glück holen.

Die Geländer der Steige leuchten vergoldet. Lenins Kopf glänzt ganz besonders. Der Proletarier vom Dienst hat ihn kurz zuvor aufpoliert. Einzig Lenin scheint für eine soziale Machtbalance zu taugen.

Bevor es aber zum Happy-End kommt, glaubt Brünnhilde in ekstatischer Erhitzung nach dem langen Feuerschlaf ihren Grauen, „mein selig Roß“, wiederzusehen. Die Inszenierung projiziert videotechnisch einen Doppelblick. Über der Szene eingeblendet, entdeckt ein an einen Schamanen erinnernder, blutbefleckter Mann eine blutverschmierte Frau im Gras und schleift sie im Zeitlupentempo vom Fundplatz.

Filmschnitt, die Bühne dreht sich zum Alexanderplatz. An einem Biertisch vor einer Pommes-Bude umarmen sich Brünnhilde und Siegfried – „leuchtende Liebe, lachender Tod“ – nachdem sie zuvor Walhall dem Verfall preisgegeben haben.

Erregte Stimmen, die sich nach der Vorstellung Luft verschaffen: „Das ist die Bosheit des Regisseur, dass er mit seiner Klamauk-Inszenierung die Konzentration auf die Musik gezielt unterläuft. In einem Gespräch kann man Argumente austauschen. Hier nimmt uns Castorf in argumentative Gefangenschaft. Da wird es ärgerlich.“

Die Inszenierung funktioniert wie ein überhitzter Dampfkessel. Es brodelt und dampft, aber irgendwie ist die Übersicht verloren gegangen, welche Ingredienzien dafür verantwortlich sind. Welches Gericht wird hier vorbereitet?

Zwischen heißer Luft und einem nachvollziehbaren Garprozess in dieser Inszenierung zu unterscheiden, ist für Orchester, Dirigent und Solisten nicht leicht. Deshalb ist es bemerkenswert, mit welcher Luzidität und kraftvollen Linien Petrenko das Festspielorchester durch die Untiefen der Partitur und gegen das Bühnenspektakel souverän leitet.

Den Solisten ist Respekt zu zollen, wie sie trotz mancher schauspielerischen Parforceritte, die die Inszenierung ihnen ständig abverlangt, durchgängig brillant und ausdrucksstark singen.

Klaus Koch als Wotan sowie als Wanderer in Siegfried ist auch am dritten Abend überaus bühnenpräsent. Sein Bariton malt jede Szene klangmalerisch aus, gibt ihr eine authentische Überzeugung.

Albert Dohmen als Alberich, Andreas Hörl als Fafner und Nadine Weissmann als Erda sind wie Koch über die drei Tage substanzielle und verlässliche sängerische Gestalter ihrer Rollen.

Andreas Conrad singt spielend, spielt singend Mime bis zu seinem Tod mit markant geschärften, ironisierenden Untertönen. Wo Wagner notiert hat: Er kichert wieder, moduliert Conrad seine Stimme mit kieksenden und kreischenden Überbetonungen. Seine Darstellung des Mime, changierend zwischen überschätztem Selbstbewusstsein und unterwürfiger Anbiederung, ist ein bemerkenswerter sängerischer Glanzpunkt in einem insgesamt hervorragend disponierten Solistenensemble.

Catherine Foster erfüllt zusammen mit dem Siegfried von Stefan Vinke die anspruchsvollen Erwartungen an diese Rolle. Sie formen in intonationsreinen, alerten Dialogen, stimmliche Exaltationen einschließend, die Rollencharaktere zwischen Traum und Wirklichkeit.

Die Buh-Rufe nach dem Schließen des Vorhangs, die der Inszenierung gelten, verwandeln sich in anhaltende Jubelstürme, als die Solisten hervortreten. Er schwillt noch einmal merklich an, als sich Petrenko sehen lässt. 

Götterdämmerung

Nach heiß-schwülen Tagen, die das Festspielhaus Bayreuth vom Rheingold bis zur Pause zum dritten Aufzug der Götterdämmerung in ein Treibhaus verwandelt haben, setzt der Regen in dem Moment ein, in dem die letzten Takte von Der Ring des Nibelungen verklungen sind. Frisch wie Quellwasser tropft es auf den ausgetrockneten Boden. Wasserdampf versetzt den Wolfgang-Wagner-Platz in eine surrealistische Szenerie.

Die Bühnennebel wabern durch die offenen Türen nach draußen und vermischen sich mit der Wirklichkeit. Es ist, als hätte Regisseur Frank Castorf mit der meteorologischen Vorhersage im Bunde inszeniert. Eine überzogene, wenn auch verlockende Spekulation. Weniger spekulativ dagegen Castorfs Ring-Dramaturgie, die dialektisch funktioniert. Seine inszenatorische Intention ist anhaltend und konsequent von Bildfindungsassoziationsketten im Abgleich mit der Realität bestimmt. Sie folgt der sachlichen Erfahrung, dass die Gegenwart durch Vergangenheit geprägt und die Zukunft offen ist.

Siegfried wird durch einen Zaubertrank für Gunthers Machtphantasien gefügig gemacht. Stefan Vinke spielt Siegfried mit Macho-Instinkt. Sein Tenor ist ausgreifend in den Höhen, geschmeidig in den Mittellagen und mit sonorer Klangfülle in den Tiefen. 

Alejandro Marco-Buhrmester, Stephen Milling und Allison Oakes spielen im Trio mit sängerischer Verve zuerst in geteilter intriganter Gemeinsamkeit. Später verlieren sich ihre gemeinsamen Anteile, respektive Anteilnahme am mörderischen Spiel, jedoch nicht ihre solistische Überzeugungskraft. Beim Schlussapplaus, der sich, untermischt mit wenigen Buh-Rufen, zu 15-minütigenstehenden Ovationen ausweitet, ist unüberhörbar, wie er für Alejandro Marco-Buhrmester noch um einige Phon ansteigt.

Seine Hagen-Darstellung zeichnet sich durch eine klar verständliche Artikulations- und Sprechkultur aus. „Außer bei Hagen und Waltraute, hervorragend mit Claudia Mahnke besetzt, habe ich nichts verstanden. Bei der akustischen Qualität des Festspielhauses nicht nachzuvollziehen“, ärgert sich eine Besucherin in der Pause.

In der Bühne von Aleksandar Denić wirbt ein Signet, dass zu DDR-Zeiten an allen Brücken der West-Ost-Transit-Autobahn hing: VEB Chemische Werke Buna, Plaste und Elaste aus Schkopau. Übersetzt in Plastik dominiert es in der Castorf-Inszenierung als symbolisch aufgeladenes Spielmaterial.

Nicht durch Zauberei, aber mit der Kraft der politischen Macht, unterfüttert vom Verführungszauber des Geldes, verklärt sich die Wahrnehmung. Mit einer  kleinen Bühnendrehung verschieben sich die Perspektiven und unterlaufen bis dahin verlässliche Wahrnehmungen.

Der Thespiskarren ist vor einem verhüllten Gebäude abgestellt. Was zuerst wie ein Hinweis auf Wagners Konsequenz aus seinem gescheiterten Revoluzzertum 1848 in Dresden verstanden werden könnte, mit Kunst die revolutionäre Brandfackel zu zünden, erweist sich als radikaler Irrtum. Keine Verhüllung des Bundestages durch die Kunstaktion von Christo. Als die Hülle fällt, entpuppt sich das Gebäude als New York Stock Exchange. Politik, so könnte man schlussfolgern, muss auch in ihrer demokratischen Verfasstheit – trotz Unterstützung durch die Kunst – die Dominanz der Finanzmärkte anerkennen.

Während die Machenschaften und Intrigen von  Hagen und Gunther ihren Lauf  nehmen, flackert die Plaste-Elaste-Leuchtschrift mit einem letzten, zuckenden Aufbäumen gegen ihr Verlöschen an. Brünnhilde entdeckt Siegfrieds Liebes- und Ring-Betrug und fordert Hagen zur Rache auf. In dem Moment verlischt das schillernde Rot-Orange der Leuchtschrift.

Catherine Foster ist an diesem Abend in Hochform. Sie singt Brünnhilde mit kämpferischer Attitüde. Ihre Stimme vibriert energiegeladen. Auch dann noch, wenn sie sich eingestehen muss, dass sie in die Falle gegangen ist. Zusammen mit Stefan Vinke eine beglückende, überzeugende Besetzung.

Die Fahnen der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges schwenkend, bekräftigt der von Eberhard Friedrich dynamisch disponierte Chor den Rachekomplott. Mit „Heil, Dir Gunther! Heil, Deiner Braut!“ besiegelt er, gewissermaßen mit Volkes Stimme, den Komplott. Den Mächtigen dieser Welt scheint nichts einfacher, als sich des Volkes als willige Jubelkulisse zu bedienen.

Bei allen kritischen Anmerkungen zu der Inszenierung verbindet sie an einzelnen Stellen Wagners Libretto mit seiner Komposition auf erhellend instruktive Weise. In der Szene, wo Siegfried, durch Gutrunes Zaubertrank in Gunther verwandelt, sich ihrer ohne Wenn und Aber mit Wollust bemächtigt, wendet er sich kurz innehaltend und fragend an Gunther: „Wie heißt deine Schwester?“ Die an dieser Stelle in der Partitur gesetzte Generalpause wirkt wie das retardierende Moment in einem Shakespeare-Drama. Siegfried scheint für Sekunden wieder sein Bewusstsein für die Wirklichkeit gewonnen zu haben.

Eindrücklich wird man in solchen Momenten gewahr, mit welcher stringenten Konsequenz und feinsinnigen Intelligenz Petrenko das Festspielorchester dirigiert. Klangfarben vom Blech über die Holzbläser bis zu den Streichinstrumenten malen Wagners Musik mit impressionistischer Anmutung wunderschön aus. Petrenkos Dirigat verbindet die Typik der Motive zu einem musikalischen Fließen, ohne sie allein herausstellend zu überbetonen.

Obwohl, je mehr man sich auf Castorfs Inszenierung einlässt, die Bilderflut nicht nur ermüdend wirkt, sind immer wieder Stimmen aus dem Publikum zu hören, die das beklagen: „So ist das heute. Es gibt keine Ruhepunkte mehr, um sich auf die Musik konzentrieren zu können.“

Der proletarische Platzhalter, der neben dem durch die Szenerien geschobenen Brechtschen Marketenderwagen Wagners Tetralogie narrativ und gestisch kommentiert, betreibt vor einer Brandmauer eine Döner-Box. Verbaute Mauerrelikte sind Zeugen der Vergangenheit, wie der Raum nebenan mit Kerzen und Heiligenfiguren als Relikt religiös besetzter Hoffnungen erscheint. Für Hagen und Gunther ein mit einem Ziehgitter abschließbarer, pseudo-religiöser Mutmacher-Raum.

Sie trinken das in Flaschen abgefüllte Weihwasser wie Alkohol und versprühen es umgehend auf die Heiligenbilder an der Wand. Lenins von Karl Marx übernommenes Diktum, Religion sei „Morphium fürs Volk!“, verbindet die Inszenierung mit Gutrunes Zaubertrank. Will heißen: Das vernebelte Menschenhirn ist zu vielem fähig.

Zu Beginn des letzten Aufzuges hat sich der heilige Ort in eine Notunterkunft verwandelt. Vor der Döner-Box nebenan liegt der Budenbetreiber erschlagen. Die Rheintöchter – „Frau Sonne sendet lichte Strahlen“ – entsorgen ihn in den Kofferraum ihres amerikanischen Chevrolet-Cabriolets. Ihr letzter Versuch, Siegfried zu überzeugen, ihnen den Ring zurückzugeben und sich vielleicht damit selbst zu retten, weist er zurück. „Im Wasser wie am Lande lernt‘ ich nun Weiberart; wer nicht ihrem Schmeicheln traut, den schrecken sie mit Drohn‘“.

In solchen dicht komponierten Szenen, die intelligent mehrere Assoziationsperspektiven eröffnen, ist die Inszenierung überzeugend und schlüssig. Stimmen, die meinen, dass das Castorfs Abrechnung mit der DDR sei, greifen zu kurz. Man muss seine gesellschaftliche Sichtweise von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht teilen und kann trotzdem seine kenntnisreiche, reflektierte Verknüpfung von historischen Fakten und Zitaten der künstlerischen Moderne anerkennen.

In den besten Momenten öffnet sich ein lebenspraller Kanon zwischen Wunsch, Traum und Wirklichkeit. Als am Ende des zweiten Aufzuges Siegfrieds Tod beschlossene Sache ist, poltert der Döner-Mann als Zitat aus Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin mit einem Kinderwagen eine steile Treppe hinab. Kartoffeln, Wagen und der Proletarier stürzen in den Komplott hinein. „So soll es sein! Siegfried falle“, unterstreicht Hagen das, was Brünnhilde und Gunther vorher vereinbart haben. Wie der Kinderwagen in seinem Sturz nicht aufzuhalten ist, ist auch Siegfrieds Tod nicht mehr zu verhindern.

Mit Rheingold-Reminiszenzen kündigt sich musikalisch das Ende an. Tonmalerisch erfindet Wagner impressionistische Bilder eines langsam strömenden Gewässers. Melancholie und Todesahnung bestimmen die Musik. Castorf lässt die Rheintöchter mit dem Cabriolet auffahren, als kämen sie geradewegs vom Swimmingpool des Golden Motels nach Plaste-Elaste-Schkopau.

Siegfried hat sich beim Jagen nicht mehr an den Rhein verirrt. Er jagt dem Phantom Liebe in ihrer eindimensionalen, vulgär-erotischen Verkleinerung hinterher. Schöne Autos und schöne Frauen machen Siegfried blind für die Wirklichkeit. Das teilt er mit vielen Männern ungebrochen bis heute.

Während in einer apotheotischen Wälsungen-Reprise die Visionen eines Weltuntergangs aufscheinen, ist Hagen auf einer Video-Wand zu sehen, wie er irrlichternd durch einen Wald stolpert. Diese Verbindung von Musik und filmischem Bild ergänzen sich hier auf eine meditative Weise, wie es in vielen Einstellungen seit Rheingold selten geschah.

Am Ende steht Brünnhilde mit ihrem goldenen Kleid verloren vor den von Hagen leck geschlagenen Ölfässern: „Trauernde Liebe tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf; enden sah ich die Welt“. Langsam tropft das schwarze Gold zu Boden. Nach der Götterdämmerung zieht eine Menschendämmerung am Horizont auf. Sie hält bis heute an.

Frenetischer Jubel, begeisterte Bravi als Dank einer mehrtägigen Wagner-Gemeinschaft des Publikums an Solisten, Chor, Orchester – und mit herausragendem Applaus für Kirill Petrenko. Ein Bild für das Familienalbum: Der Dirigent mit seinem von innen heraus strahlenden Lächeln inmitten seiner sommerlich leger gekleideten Musiker.

Vor der Festspielhaustür tropft es regennass vom Himmel. Aus dem Boden, wo Erda die Nornen, nach dem das Seil des Schicksals gerissen ist, in den Schoß der Erde zurückgeholt hat, verdampft das Regenwasser. Hüllt die Ring-Besucher wie Schattengestalten auf ihrem Weg zum Parkplatz ein.

Peter E. Rytz

Fotos: Enrico Nawrath