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Fakten zur Aufführung 

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)
22. Mai 2015
(Premiere)

Festspielhaus Baden-Baden

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Gegensätze der Vergänglichkeit

Wenn ein Team aus Spitzensolisten zusammentritt, um ein Projekt zu verwirklichen, muss das noch lange nicht heißen, dass dabei ein überragendes Ergebnis herauskommt. Und ein Tenor ist noch lange kein guter Regisseur, weil er als Sänger eine Menge Erfahrung auf den größten Bühnen gesammelt hat. Das Festspielhaus ist das Wagnis eingegangen und hat Rolando Villazón Giuseppe Verdis La Traviata inszenieren lassen. Villazón hat Ende des vergangenen Jahres seinen ersten Roman mit dem Titel Kunststücke veröffentlicht, in dem es um die melancholische Poesie eines Clown-Lebens geht. Da scheint es nur folgerichtig, die Traviata in der Zirkus-Manege zu inszenieren. Keine wirklich originelle Idee, allerdings auch keineswegs so abwegig, wie mancher Kritiker sie einschätzt.

Regisseur Villazón schafft mit Bühnenbildner Jo Leiacker eine mehrdimensionale Zirkuswelt mit Dalì-Anleihen. Im Vordergrund liegt die Uhr mit den zerfließenden Zeigern, dahinter in schiefer Ebene eine Manege, rechts und links Seitenbühnen, vor denen Skulpturen installiert sind. Im Hintergrund eine weitere Bühnenebene, die verschiedene Funktionen wie Zuschauertribüne, Himmel oder einen sehr speziellen Auftritt ermöglicht. Ein pralles, lustvolles, mit kräftigen Farben gemaltes Bild, das mit Lichterketten und starken Lichteffekten von David Cunningham noch verstärkt wird. Den Clou schafft Thibault Vancraenenbroeck mit überwältigend fantasievollen Kostümen in einer Kombination aus überdrehter Artistenwelt und strikt charakterisierenden Designs. Violettas weißes, paillettenbesetztes Kleid, das an die Zirkusprinzessin erinnert, ist da noch das „Harmloseste“, was an diesem Abend zu erleben ist, wenngleich auch hier die assoziative Aussage überzeugt. Villazón belässt es nicht bei dieser Idee, die den Zuschauern in der fantasievollen Umsetzung ausnehmend gut gefällt. Der Zirkus als Welt, in der alles zwischen gnadenloser Euphorie einer Aufführung und der absoluten, melancholischen Einsamkeit einer Manege nach der Aufführung vertreten ist, in der glitzernde, rauschende Feste so alltäglich sind wie der Absturz des Artisten. All das findet sich in Verdis Traviata wieder. Völlig überflüssig ist der übermäßige Einsatz des Theaternebels, der dafür sorgt, dass viele sängerische Höchstleistungen vom Publikum, das nur noch verschwommen erkennbar ist, verhustet werden. Ärgerlich. Neu ist die Sichtweise, Violetta als bereits gestorben einzuführen und die Geschehnisse der letzten, letal ausgehenden Vergangenheit als Traum darzustellen. Dazu wird eine Artistin zusätzlich auf eine Schaukel gesetzt. So wird die ohnehin bizarre Figur der Violetta noch ein Stück weiter der Wirklichkeit enthoben und ihre Gefühlswelt verstärkt wiedergegeben.  Das gelingt dem Regisseur durchgängig überzeugend. In den Arien und Duetten geht Villazón die Puste aus. Dann ist Rampe angesagt, und das gefühlte Tempo stockt. Da hilft auch die sängerische Leistung nicht weiter.

Die allerdings ist grandios. Olga Peretyatko schafft eine sehr eigene Interpretation der verstorbenen Violetta, in der sie alles zulässt, was die Kurtisane bei Verdi an Tiefe bietet. Bei ihrem „Freude, Schmerzen haben ein Ende“ werden alle Gegensätze der Vergänglichkeit deutlich. Das Attendo, attendo … né a me giungion mai! im dritten Akt haut das Publikum endgültig von den Socken. Darstellerisch wird sie das Opfer von Villazóns Ideenlosigkeit, die sie mit ihrem Gesang mehr als auffängt. Susanne Preissler übernimmt mit wunderbaren Trapezeinlagen ihren „lebendigen“ Part – und fasziniert mit ihrem „Absturz am Seil“ zu Beginn des dritten Aktes, der das Ende von Violetta einleitet. Mit Atalla Ayan steht Peretyatko ein wunderbarer Alfredo zur Seite. Der Tenor, als Einspringer in der Met aufgefallen, kann sich seither vor Angeboten kaum noch retten. Als Alfredo gibt er im Festspielhaus sein Debüt und hat das Publikum nach dem ersten Einsatz – zu Recht – auf seiner Seite. Die dritte Spitzenbesetzung im Bunde ist Bariton Simone Piazzola. Als „graue Eminenz“ ist er von Kopf bis Fuß grau eingefärbt. Bei so viel Farblosigkeit zählen nur noch Stimme und eigene Ausstrahlung. Bei Piazzola reicht das, einen begeisternden Giorgio Germont zu geben. Unter den übrigen, gut besetzten Rollen soll hier Walter Fink als Doktor Grenvil mit einem hellen, aber unglaublich voluminösen Bass erwähnt werden. Er rundet das Gesamtergebnis zum dritten Akt hin ab. Große Spielfreude und Durchschlagskraft zeigt der Balthasar-Neumann-Chor in der Einstudierung von Detlef Bratschke.

Maliziös zeichnet Pablo Heras-Casado mit dem Balthasar-Neumann-Ensemble die Abwege der Violetta nach, oft mit fast schon ein wenig zu viel Rücksicht auf die Sänger. Da wird es im Graben allzu leise. Fast schon der Eindruck von Filmmusik entsteht, wenn Teile des Ensembles hinter der Bühne spielen. Das ist Geschmackssache.

Eindeutig den Geschmack des Publikums trifft diese Inszenierung. Der Saal tobt, nachdem er schon während der Aufführung – mal treffsicher, mal überflüssig – mit Applaus nicht gegeizt hat, unter Einsatz aller Mittel. Nicht so oft erlebt man, dass die Menschen sich erst von den Sitzen erheben, als der Regisseur und sein Leitungsteam die Bühne betreten. Fantasie gewinnt auch heute noch.

Michael S. Zerban

 



Fotos: Andrea Kremper