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Fakten zur Aufführung 

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)
19. April 2008 (Premiere)

Staatstheater Oldenburg


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Zeitgemäß ohne Trash-Akrobatik

In den knapp zwei Jahren seit dem Antritt des neuen Teams um Generalintendant Markus Müller hat sich das Oldenburgische Staatstheater zu einem überregional anerkannten Zentrum für progressives zeitgenössisches Musiktheater entwickelt. Zeitgenössisch ist in Oldenburg neben der Präferenz für Stücke des 20. und 21. Jahrhunderts auch die Art und Weise, wie hier die großen Klassiker zur Diskussion gestellt werden. Dass Letzteres keineswegs auf eine plane Aktualisierung oder gar auf modische Trash-Akrobatik hinauslaufen muss, beweist beeindruckend die Neuinszenierung der unsterblichen „Traviata“.

Keine Spur vom gewohnten Feststiegen-Glanz ziert das Bühnenbild von Nicole Pleuler: Ein hochragendes, opakes Arena-Halbrund, das durch den Einsatz der Drehbühne beidseitig bespielbar ist, versinnbildlicht die das Öffentliche und Private gleichermaßen umgreifende Mitleidlosigkeit einer inhumanen Gesellschaft. Das ist sehr plausibel, auch wenn sich bisweilen Assoziationen an die Stierkampfarena aus dem Finale von „Carmen“ nicht ganz abdrängen lassen. Im 2. Bild befindet sich in dieser Schicksalswand ein verschlagähnlicher Durchlass, zu dem eine giftgrüne Rasenrampe hinaufführt. Ebendort steht Violetta, wenn sie ihr emphatisches „Amami, Alfredo“ singt. Der fast schmerzliche Widerspruch zwischen Hören und Sehen scheint wohlkalkuliert: Die Utopie von der ländlichen Idylle bleibt in Elisabeth Stöpplers Inszenierung nur eine Illusion, ein biederer Kleinbürgertraum. Dies ist mitnichten ein Ort der Freiheit und des Glücks; und wohl auch deshalb ist es dem alten Germont so überraschend leicht möglich, Violettas Widerstand zu brechen.

Wenn sich diese Inszenierung so stark in die Erinnerung einbrennt, liegt das allerdings weniger an solch letztlich doch streitbaren und abstrakt-konzeptionell bleibenden Behauptungen als an der sehr stringenten Personenführung mit ihrer bewundernswerten Musikalität und seelischen Spannkraft. Daran klebt Herzblut! Wie Regisseurin Elisabeth Stöppler die Welt des 19. Jahrhunderts und deren Glauben an das große, starke Gefühl für die Empfindungsweisen von Menschen des 21. Jahrhunderts öffnet, das kündet von dem Ingenium eines kommenden Regiestars.

Mit Irina Wischnizkaja in der Titelpartie konnte sich die Regisseurin freilich auf eine unverwechselbare Sängerinnenpersönlichkeit stützen, die ihre Zuschauer und Zuhörer mit jedem Augenblick auf der sinnlichen wie der emotionalen Ebene gefangen nimmt. Allein eine solche Sängerdarstellerin im Ensemble zu haben, ist ein zwingender Grund, die „Traviata“ in den Spielplan zu nehmen. Durch ihren ganz natürlich wirkenden Charme macht Irina Wischnizkaja aus der schwindsüchtigen Dirne den einzigen Menschen mit einem intakten Gefühlsleben inmitten der kranken Gesellschaft. Das findet auch in ihrer vokalen Charakterisierungskunst seinen vollen Widerklang: Ihr strömendes Legato, die belcantische Beseeltheit der Linienführung besitzen selbst im höchsten Schmerzensausdruck immer noch etwas von der Leichtigkeit und Unbeschwertheit eines Vogelflugs.

Hannu Niemelä übersteigert sein Portrait des Giorgio Germont dagegen ständig ins Fortissimo-Gebrüll mit dem Ergebnis, dass die Figur nur von außen aufgesetzt wirkt, statt aus dem vokalen Ausdruck entwickelt zu werden. Daniel Ohlmann überzeugt dafür trotz angekündigter Indisposition als Alfredo mit geschmeidiger und überlegter Melodieformung. Unter der engagiert-energischen Leitung von GMD Alexander Rumpf bewährt sich das Oldenburgische Staatsorchester als sensibler, rhythmisch versierter Begleiter der Solisten, während die aufwühlenden Zuspitzungen in der Konfrontation von Individuum und Gesellschaft auch instrumental zu wuchtigen Klangeruptionen gesteigert werden.

Es zeugt von der bemerkenswerten Produktivität der Oldenburger Bühne, wenn fast sämtliche Partien aus dem eigenen Ensemble doppelt besetzt werden können. Im Sommer wird das Haus seine neue Verdi-Einstudierung im Stagione-Betrieb am Theater Heilbronn zeigen. Daheim in Oldenburg gerät das Publikum rasch in die Sogkraft der Aufführung und spendet am Ende lang anhaltenden Beifall für alle Beteiligten. Überall spürt man eine starke Identifikation des Publikums mit seinem Haus. Wen wundert’s? Mit dieser „Traviata“ präsentiert Oldenburg die Oper als konkurrenzlose, höchste Potenz des Theaters.

Christian Tepe
 




Fotos: Andreas J. Etter