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Fakten zur Aufführung 

THE RAPE OF LUCRETIA
(Benjamin Britten)
31. Mai 2008 (Premiere)

Staatstheater Oldenburg


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Fusion von Sexualität und Gewalt

In Oldenburg legt man noch großen Wert auf eine triftige Spielplangestaltung. Nach „La traviata“ nun Brittens „The Rape of Lucretia“: zwei Frauen, zwei Passionsgeschichten, zwei katastrophal gescheiterte Versuche, eine weibliche Ethik inmitten der lebensverneinenden virilen Wertehierachie zu behaupten. Aber im Gegensatz zu Verdis Kurtisane hat Brittens keusche Römerin von Anfang an nicht den Hauch einer Chance.

Regisseur David Hermann zeigt präzise, worin eigentlich Lucretias Tragik besteht. Die militarisierte und brutalisierte Männerordnung der etruskischen Schreckensherrschaft – für Britten ein Sinnbild der Barbarei des 20.Jahrhunderts – verurteilt Lucretia und ihre Gefährtinnen zu einer passiven, den Männern dienenden Daseinsweise. Bei Hermann sind sie in von der Oberbühne herabreichenden Stoffbahnen eingeschnürt: Das Leben dieser Frauen verrinnt ungelebt im Verborgenen. Für ein solches Los ist die hochherzig liebende und sensitive Lucretia charakterlich nicht bestimmt. Aber der Etruskerprinz Tarquinius (teilweise arg forcierend: James Bobby), der ihr die Fesseln aus Stoff löst, kommt nicht als Befreier, sondern als Zerstörer.

Die Titelpartie wird von Katerina Hebelkova bis in die letzten seelischen Verästelungen hinein durchdacht und durchlebt. Ihr Gesang ist glutvoll, ein ständiges inneres Beben, selbst die aschfahle Agonie der Schlussszene ist noch mit stärkster unterschwelliger Erregung aufgeladen. Von großartiger psychologischer Eindringlichkeit ist das Changieren dieser Lucretia zwischen der Furcht vor dem Unheil von draußen und der Angst vor einer unbestimmten Erwartungshaltung tief im Inneren der eigenen Seele.

Wird damit womöglich jene frauenverachtende Ideologie transportiert, die dem Opfer ein geheimes Einverständnis unterstellt? Keineswegs. Doch Hebelkova und Hermann verdeutlichen eindrucksvoll das stille Ringen dieser Frau mit sich selbst um ihre Würde, ihre Menschlichkeit, um das Ethos ihrer Gattenliebe. Gerade das macht die Größe der Gestalt aus. Lucretias Vergewaltigung nimmt Hermann schon mit der ersten Szene atmosphärisch vorweg, wenn Frustration, Sexualität und Gewalt unter den metallisch-maskenhaft verhärteten Generälen zu einem höchst aggressiven und destruktiven Gemisch fusionieren.

Die Spielfläche, die Alexander Polzin über den Orchestergraben in den Zuschauerraum hineingebaut hat, holt das Stück aus der Ferne einer antiken Legende buchstäblich in die Gegenwart zurück. So kann niemand auf die Idee kommen, das alles gehe uns heute nichts mehr an. Neue dramaturgische Funktionen erschließt das Bühnenbild den beiden Erzählern, die das Geschehen aus christlicher Perspektive deuten. Hier stecken sie in den Gehörgängen gigantischer Ohrenskulpturen, die aus den Proszeniumslogen herauswuchern. Während die männliche Erzählerfigur Lucretias Kreuzweg mit einem aus Sensationsgier und Erschrecken collagierten, ölig wirkenden Gehabe kommentiert, bleibt es dem weiblichen Part (eindringlich und klangschön: Marcia Parks) vorbehalten, authentisches Mitleid für Lucretia auszudrücken. Thorsten Scharnke mimt und singt den Erzähler mit lustvoller Eloquenz. Einfach superb, wie Scharnke mit seinem reich schattierten Tenor fein dosierte dynamische Steigerungen zelebriert!

Überhaupt versammelt diese Produktion ein Solistenensemble von hohem Rang. Fast alle Figuren sind optimal besetzt. Intensives, aufwühlendes, erkenntnismächtiges Musiktheater mit starken jungen Sängerdarstellern – damit hat Oldenburg in letzter Zeit immer wieder auf sich aufmerksam machen können. Solistisch gefordert sind auch die 12 Instrumentalisten aus dem Oldenburgischen Staatsorchester. Dirigent Olaf Storbeck und das Kammerensemble beschwören klangimaginativ Natur- und Seelenlandschaften, musizieren behutsam und doch passioniert ein Ausdrucksspektrum, das von trocken-harten Tuttiakkorden bis zu ätherischen Motivpartikeln von höchster Suggestionskraft reicht.

Von der Aufbruchsstimmung in Oldenburg profitiert auch das Publikum, das die Premieren mit einer noch jedes Mal aufgeschlosseneren, wacheren und befreiteren Wahrnehmung begleitet.

Christian Tepe
 






Fotos: Hans Jörg Michel