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Fakten zur Aufführung 

AUS DEUTSCHLAND
(Mauricio Kagel)
3. März 2007 (Premiere)

Oldenburgisches Staatstheater

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Die Tradition - gegen den Strich gebürstet

Eine freundliche, einladende Atmosphäre: das weiße Tischtuch legt sich glatt über die lange Tafel, die schon fein gedeckt ist. Und auch der Sekt steht bereits kalt. Die Gäste also können kommen. Schon wenige Stunden später hat sich dieses gediegene Interieur ein wenig verändert – um nicht zu sagen: krass gewandelt.

Verwandelt vor allem haben sich die Menschen, die nun, zu vorgerückter Stunde, in diesem verbrauchten Festtagsambiente über Gott und die Welt nachsinnen. Genau hier beginnt Mauricio Kagels Bühnenstück „Aus Deutschland“, mit dem das Oldenburgische Staatstheater Anfang März eine neue zusätzliche Spielstätte einweihen konnte: die alte Exerzierhalle, hervorragend geeignet für kammerspielartige Stücke wie Kagels Auseinandersetzung mit der großen Tradition der deutschen Romantik.

Um die nämlich geht es in den rund achtzig Minuten Musiktheater, wobei Kagel jemand ist, der dieser deutschen Tradition eher misstraut und sie hinterfragt, der Franz Schubert keinesfalls als zu bewunderndes Kulturgut begreifen würde, vielmehr dessen gebrochene Existenz für den Ausdruck einer ganzen Epoche und einer ganzen Gesellschaft hält. Romantik als Suche nach der „blauen Blume“, nach grenzenloser Liebe – und Sehnsucht nach dem Tod. Dieser Ansatz wird bei Kagel zu einer skurrilen Lieder-Oper, sich zusammensetzend aus Texten von Heine, Hölderlin, Goethe und all den anderen Größen. Eine schillernde Kollage von Gemütsverfassungen, die die Frage aufwerfen, was sie uns heute bedeuten.

Destruktion durch Verfremdung ist dabei eines der Mittel, deren Kagel sich bis aufs Äußerste bedient. Das gedichtete Wort wird brüsk abgeschnitten, mit ganz anderen Versen montiert, in einen völlig fremden Kontext gestellt und wirkt wie sinnentleert.

Die Figuren, die hier durchs Stück torkeln, bleiben erkennbar. Da gibt es den eifernden Edward, der auf Geheiß seiner Mutter den Vater gemordet hat. Der Leiermann aus Schuberts „Winterreise“ steht da in dem zerrupften Festsaal, wenn auch ohne seine Leier. Selbst ein kläffende Hundemann robbt übers Parkett und meldet sich lautstark zu Wort. Goethe höchstpersönlich beehrt die Runde, eine Frau profitiert sinnlich davon und formuliert mit Schuberts Schwanengesang: „Bebend harr’ ich Dir entgegen. Komm, beglücke mich!“ Eben jenes geschieht umgehend. Auch Schubert ist da, steht seitlich am Klavier und spielt. Am Ende will man den Armen gar umbringen…

Das alles ist reichlich grotesk gemacht – und entspricht ganz der Kagelschen Intention. Was der Oldenburger Inszenierung fehlt, ist das Schwarze, Finstere, das Abgründige und Makabre dieser Zustandsbeschreibung, die „Aus Deutschland“ jenseits des Witzigen auch sein möchte.

Kagel kommt, was die Musik betrifft, mit einer Handvoll Streichern aus, im Vordergrund stehen gestimmte und ungestimmte Klaviere, dazu noch ein Harmonium, mehr braucht es nicht. Die Mitglieder des Oldenburgischen Staatsorchesters agieren unter Leitung ihres Kapellmeisters Olaf Storbeck präzis und mit hörbarem Engagement. Auch das Solistenensemble – immerhin sind es elf Stimmen, die in wechselnde Rollen zu schlüpfen haben – schlägt sich tapfer durch die Partitur. Doch stellt sich schon nach den ersten der insgesamt 27 Bilder dieses musiktheatralischen Essays ein Gefühl der Gleichförmigkeit ein, nach achtzig Minuten dann allemal. Kagels Klangkunst - womöglich ein entbehrliches Geschehen? Dieser Verdacht drängt sich nach der Oldenburger Premiere auf.

Ihre Feuerprobe bestanden hat die alte Exerzierhalle, ein langgezogener Backsteinbau von 1830. Noch ist sie nicht ganz fertig, doch nach dem ersten Probelauf ist das Fazit bereits durchaus positiv. Wo einst Infanteristen für ihren Einsatz knochenhart zu üben hatten, ziehen nun die Künstler ein. Der Bühnenboden ist verlegt, einiges andere noch Provisorium. Dauerhaft wird der rund 800 Quadratmeter große loftartige Raum zur Heimstatt für Oper, Tanz und Schauspiel – und womöglich auch zu einer topaktuellen, angesagten Adresse auch für Late Nights, Liederabende und künstlerische Experimente.
Christoph Schulte im Walde


Fotos: © Hans Jörg Michel