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Fakten zur Aufführung 

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL
(Wolfgang Amadeus Mozart)
28. Dezember 2008
(Premiere: 20. Dezember 2008)

Staatstheater Nürnberg


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Kulturelle Differenzen

In Mozarts genialer Ouvertüre prallen europäische und orientalische Musik aufeinander – in Nürnberg hebt sich der Vorhang, und sichtbar wird ein etwas heruntergekommen wirkender Häuserblock wie in Nürnberg-Gostenhof oder in Berlin-Kreuzberg oder in Duisburg-Marxloh – ein real nachempfundenes „Türkenviertel“ eben. Harald Thor rekonstruiert diese spezifische Architektur mit viel Kenntnis akzentuierender Details. Und Andreas Baesler inszeniert ein durchaus konfliktreiches Spiel der kulturellen Differenzen, pointiert individuelles Verhalten auf dem Hintergrund der real existierenden Unterschiede individueller Verhaltensmuster. Dabei vermeidet er ideologische Anklänge an die clash of civilization-Propaganda, aber auch jegliche Illusion einer Multikulti-Harmonie; statt dessen geht es ihm um individuelle Lebens-Modelle: kulturell begründet, aber auf der Suche nach neuen – durchaus „offenen“ – Formen der „Selbstverwirklichung“. Allerdings: Eine Eins-zu-Eins-Übersetzung des Mozartschen Orient-Märchens will nicht gelingen, zu divergierend sind die abgehobenen Dialoge des 18. Jahrhunderts, zu historisch bedingt die Konstellationen, zu zwingend die musikalischen Vorgaben. Aber dennoch: Ambivalenzen des deutsch-türkischen Zusammenlebens werden deutlich, Paradoxien beider Kulturen werden erhellend präsentiert – und Mozart wird nicht gnadenlos „dekonstruiert“!!

Heidi Elisabeth Meier ist als ambivalent Liebe suchende Konstanze Mittelpunkt der so anachronistisch-realen Handlung, fasziniert mit einem glutvoll-emotionalen Sopran, vermittelt existentielle emotionale Befindlichkeiten mit agiler Stimmführung, beeindruckt mit sensibler Interpretation überwältigender Gefühle durch modulationsfähiges Timbre mit ausdrucksstarken Lagenwechseln und beherrscht die von Mozart geforderten virtuosen Koloraturen, Läufe und Triller par excellence. Melanie Hirsch verkörpert die alternativ-burschikose Blonde ohne Soubretten-Attitüde mit stimmlich souverän umgesetzter intonationssicherer Stimmkultur – eine nachhaltige Interpretation unbefangener Lebensfreude! Corby Welch – als Gast eingesprungen für den erkrankten Tilman Lichdi – wird mit der komplexen Rolle des Belmonte gut fertig (Baesler setzt in seiner intensiven Personenführung aber für die großen Arien ohnehin auf eher statische Positionierungen), und gibt dem unvollendeten Charakter variable Stimme mit verhaltener Leidenschaft, aber mit kontrolliertem Mozart-Duktus. Jeff Martin ist ein fantastisch umtriebiger Pedrillo, verleiht diesem Tausendsassa animierende stimmliche Frische, ist stimmlich kompetent in den geforderten exaltierten Variationen und konterkariert – gelingend – den so pseudo-harmonisierenden „Wohlklang“ des Belmonte. Guido Jentjens gibt dem Osmin differenzierten Charakter, ist ein glaubwürdiger „Tradtions-Türke“ in fremder Umwelt, artikuliert die aggressiven „Parolen“ mit stimulierender Intensität, trifft Mozarts musikalische Türken-Anspielungen mit verblüffender Authentizität. So wie Mehmet Yilmaz einen „Türken-Paten“ gibt, der wesentliche Passagen auf Türkisch formuliert, und nicht zum aufklärerisch-idealisierten „Türken-Kant“ wird; „Wen man nicht durch Güte gewinnen kann, den sollte man sich vom Halse schaffen“ wird zur alltagstauglich operationalisierbaren Lebensweisheit.

Christof Prick und die konzentriert aufspielenden Nürnberger Philharmoniker spielen Mozart mit aller Leichtigkeit der Musik, vermitteln die Intentionen kultureller Differenzen mit viel Gespür für die unterschwelligen Konflikte, musizieren hoch diffizil und beeindrucken durch eine sensible Klang-Kultur mit viel Verständnis für subtile Effekte in Tempo und Dynamik, dabei spannungssteigernd in den dramatisierenden Fermaten – vor allem bei den virtuosen Kadenzen der Solisten auf der Bühne!

Das Nürnberger Opernhaus ist wieder voll besetzt und die Zustimmung ist grandios (fünfzehn Minuten Schluss-Applaus!) – aber von zwei Dutzend umgebenden Besuchern ist eine einzige Zuschauerin in der Lage, das Bühnengeschehen ohne störendes Gestikulieren, Platzwechsel oder lautstarkes Kommentieren zu rezipieren. Ja, gibt es denn in Nürnberg keine Publikums-Kultur? Da sollte sich doch was tun! (frs)









 
 
Fotos: Jutta Missbach