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Fakten zur Aufführung 

EICHBAUMOPER
(Ari Benjamin Meyers/Isidora Zebeljan/Felix Leuschner)
24. Juni 2009 (Uraufführung)

U-Bahnhof Eichbaum Mülheim/Ruhr; Ringlokschuppen Mülheim; Schauspielhaus Essen; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen


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Oper experimentell

Es ist ein faszinierendes Projekt mit den vorgegebenen Spielstätten U-Bahn und einer architektonisch-sozial desolaten Station nebst dem riskant-kreativen Ansatz kooperierender KomponistInnen und LibrettistInnen und der Zusammenarbeit von Ringlokschuppen Mülheim, Schauspielhaus Essen und Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – mit ihren Dramaturgen, Solisten und der Neuen Philharmonie Westfalen, wechselnden Dirigenten, Mitgliedern des Opernchores und einem Chor der Anwohner.

Zunächst: Die logistische, technische, organisatorische, kommunikative Zusammenarbeit der Beteiligten – da spielen ja auch noch die Essener Verkehrsbetriebe und der Security Service eine Rolle – funktioniert am Abend vorzüglich. U-Bahn-Waggons, Bahnsteige und Brücken entpuppen sich als animierende Spielstätten, werden auch mit adäquater Akustik integriert; die Wege des Publikums sind komplikationsfrei, die Tribüne ist der U-Bahn-Architektur mit der errichteten „Bauhütte“ hervorragend angepasst – und: der Zuspruch ist außerordentlich groß!

Doch das zu Sehende, zu Hörende und zu Fühlende vermittelt während der intensiven Performance zwei Stunden lang den Charme experimentellen Musiktheaters in avantgardistischen Studios: Die erschreckende Architektur, die Verkommenheit der vorbei gleitenden Stationen, die real existierenden Passanten nebst Geräuschen auf den umzingelnden Autobahnen bleiben Dekor, werden nicht zum authentischen Stimulus des Geschehens. Erst nachträgliche Reflexion, Aufarbeitung von Musik und Text vermögen Bezüge zur kommunikativ-sozialen Situation des Brennpunkts als bewältigungsfähiger Umwelt zu dechiffrieren.

Die erste „Kammeroper“ findet bereits in der U-Bahn statt. Bernadette La Hengst formuliert einen rätselhaften Text zu den Abgründen der individuell-divergierenden Passagiere, fokussiert auf das Leiden eines verschwundenen Kindes (?) und hinterlässt ratlose Verwirrung. Ari Benjamin Meyers setzt für seine verfremdete Musik auf pointillistische Orchester-Elemente mit auftauchenden begleitenden Bläser-Passagen.

Isidora Zebeljan setzt mit ihrer variabel-emotional konturierten Komposition zu „Simon, dem Erwählten“ auf krasse Gegensätze von abrupter Dynamik mit orchestralen Tutti und emotionalisierendem Sprechgesang: eine Demonstration nicht-normativer Ästhetik, die sich in offener Form um neue Ausdrucksformen bemüht. Borislav Cicovacki schafft einen sich allmählich erklärenden dramatischen Text der Ödipus-Jokaste-Beziehung im russischen Migranten-Milieu – im Zusammenhang mit der Musik und der differenzierenden Regie von mythischer Potenz!

Felix Leuschner präsentiert in „Fünfzehn Minuten Gedränge“ zwei kommentierende Gesangs-Stimmen in elaboriertem Sprechgesang, realisiert mit begleitenden Chören und Orchesterpassagen fast aphoristische Formen, bewegt Klänge im Raum und setzt auf irritierende Klangproduktion. Reto Fingers Text antizipiert den permanenten Wechsel in den Beziehungen der vorbeieilenden Passanten, besteht am Ende auf der diffizil-konkreten Realität des „Eichbaums“.

Zusammengehalten - und mit nachhaltiger Kommunikation vermittelt – werden diese disparaten Elemente von Musik und „Handlung“ durch die überzeugend-situationsadäquate Regie von Cordula Däuper. Sie schafft die szenischen Zusammenhänge, sie provoziert individuelle und kollektive Zusammenhänge, sie integriert die während der Aufführung real existierende „Außenwelt“ und sie stellt überzeugende Zusammenhänge her !

Jan Liesegang und Matthias Reck verstehen die verwinkelte Brachial-Architektur durchaus als „Bühne“, realisieren spektakuläre Spielflächen, integrieren die Publikums-Tribüne in das Gesamt-Ambiente – lassen stimulierende Blicke auf die umliegende Szenerie zu!

Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen arrangieren sich einfühlsam mit den ungewöhnlichen Spielorten, sind sowohl in den solistisch vorgestellten Instrumenten als auch im jeweiligen Gesamt-Klang auf die geforderten Mikropartikel, bewegte Klänge und Cluster vorzüglich eingestellt. Askan Geisler, Bernhard Stengel und Clemens Jüngling identifizieren sich mit den kompositorischen Vorgaben und leiten zu adäquatem Spiel!

Die SolistInnen des MiR gehen ihre sängerisch komplizierten Aufgaben mit bewundernswertem Engagement an, demonstrieren ihre Kompetenz zur Bewältigung szenischer und stimmlicher Exaltation! Besonders gefordert ist der agile Piotr Prochera in drei Rollen, stimmlich flexibel ausdrucksstark; Engjellushe Duka gibt dem U-Bahn-Mädchen eindrucksvolle Prägnanz; Anna Agathonos gibt die „Mutter“ mit großer Eindringlichkeit; Elise Kaufman und Noriko Ogawa-Yatake geben mit ihren eindringlichen Stimmen den Sängerinnen des „Gedränges“ viel Durchsetzungskraft; das gesamte MiR-Ensemble überzeugt mit glaubhaftem Engagement und professioneller Perfektion.

Das Premieren-Publikum folgt den Stationen und dem verfremdeten Geschehen mit großer Aufmerksamkeit, tauscht sich permanent aus, wartet auf den überzeugenden „Thrill“, reagiert am Schluss aber durchaus nach dem Motto „Was, das war’s schon?“ Auf der Rückfahrt mit der fahrplanmäßigen U 18 entspannen sich kommentierende Gespräche – und es gibt die Begegnung mit der „Basis“! (frs)