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Medikamentöser
Staatsterror
Komponierte Erstfassungen haben es meist schwer. Etwas Unfertiges, Übergangsartiges
haftet diesen Werken an. Dabei ist es wohl nur die Beleidigung unserer
Hörgewohnheit, die die Kühnheiten des Erstlings verstellt. Für München
bot sich jetzt erstmals die Möglichkeit, Gewohntes durch "Leonore" in
Frage stellen zu lassen.
Gewiss, manches in dieser Partitur ist zu ausschweifend, doch die zwingende
strukturelle Dramaturgie des 1. Aktes, die sich über Arie, Duett und Terzett
zum wundersamen Eintritt Leonores im Quartett entwickelt, vermisst man
im "Fidelio". Privates Glück und große Politik prallen hier noch radikal
aufeinander. Diese Konfrontation zeigt auch die Regie von Hans-Ulrich
Becker.
Das Bühnenbild (Alexander Müller-Elmau) stellt ein Panoptikum dar, ein
rundes Gefängnis, dessen Zellen aus der Mitte stets einzusehen sind -
totale Überwachung. Dass diese Anordnung psychologisch nur funktioniert,
wenn die Mächtigen unsichtbar sind, verschweigt die Inszenierung. Um dies
aufzulösen, benutzt Becker Tabletten. Die Gefangenen in gelben Kitteln
in offenen Zellen mit Bügelbrett werden medikamentös ruhiggestellt. Schwer
vorstellbar, dass sie andernfalls nicht die Revolte wagten, sind doch
Rocco, Jaquino und Fidelio in hellblauen Polizeiuniformen auf ihrem gut
einsehbaren, blumengeschmückten Plateau zu sehr mit sich selbst beschäftigt,
um als furchterregende Aufseher zu taugen. Becker zeigt nicht den Triumph
Leonores. Florestan bricht am Ende (tot?) zusammen, von einer infotainmentgeilen
Presse angeknipst. Deren Schlusshymnus dirigiert Fernando mit Blick auf
die Uhr. Sein Regime wird schnellstens das des besessenen Pizarro, der
als Transe gern die Anti-Leonore gespielt hätte, ablösen. Damit ist klar,
dass Cholera auf Pest folgt.
Die Sänger wirken in diesem Spiel der großen Wirkungen isoliert voneinander.
Schon der Bühnenraum ist akustisch ungünstig, vieles verhallt, feine Nuancen
werden kaum hörbar. Am ehesten behauptete sich Christoph Stephingers sonorer
Rocco, der köstlich jovial den Kopf warf, wenn es ums Geld ging. Der dramatische
Sopran Brigitte Wohlfarths (Leonore) war stimmsicher und präsent, doch
sehr scharf und tremolierend. Der lyrischen Márta Kosztolányi fehlte als
Marzelline Unbefangenheit, liebende Emphase. Gerade ihre erste Arie blieb
flach und nahm Leonores Gewissensbissen die Brisanz. Thomas Gazheli (Pizarro)
kämpfte tapfer mit der tiefen Lage seiner Partie. Preisverdächtig war
sein Spiel mit vollem Körpereinsatz und verzerrten Gesichtszügen. Wolfgang
Schwaningers Florestan nötigte Respekt ab. Bei schöner tenoraler Klarheit
neigte er jedoch dazu, Töne anzuschleifen.
Die erstmalige Leitung von Ekkehard Klemm konnte in der Feinabstimmung
zwischen Bühne und Graben einige Wackler nicht verhindern. Die Ouvertüre
leitete eruptiv das insgesamt markige Spiel des Orchesters ein.
Begeisterter Applaus des ausverkauften Hauses. (tv) |
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