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Fakten zur Aufführung 

TURANDOT
(Giacomo Puccini)
8. Mai 2010 (Premiere)

Nationaltheater Mannheim


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Entsühnung und Erlösung

Regula Gerber gelingt erneut der große Wurf: Ihre Mannheimer Turandot-Inszenierung auf höchstem intellektuellen und ästhetischen Niveau, konzeptionell stringent, theologisch durchreflektiert und tiefenpsychologisch stimmig. Sie trägt dem Märchenhaften auf zauberhafte Weise Rechnung, ohne jeden Sino-Kitsch. Beste chinesische Staatszirkustradition, wenn die geschändete Ahne Lo-u-Ling die „innere“ chinesische Mauer empor schwebt und nieder kommt; zwei Akrobatinnen übernehmen diese Rolle, damit zugleich Interpretinnen der jeweiligen Befindlichkeit Turandots, ihrer Zwiespältigkeiten, Aporien, doppelten Botschaften und Fluchtversuche ins unsinnliche, liebeskeimfreie Intelligible. Eine archetypologische Herangehensweise an Schuld und Sühne, Liebe und Leiden (in ihrer unauflösbaren Verknüpfung), Macht und Masse. Volkes Wankelmut, mal devoter Kotau und unterwürfige Proskynese, kriecherisch und zugleich auf der Lauer, ein und dieselbe Haltung; blutdürstiges Insistieren auf sein voyeuristisches Mordsvergnügen, dann wieder fähig zu Scham und Mitleid. Faszinierend, zutiefst beeindruckend, was der Chor (Leitung Tillmann Michael) an diesem Abend leistet, sowohl stimmlich, an der Grenze zur Theophanie, fast unerträglich schön im Schlussakt, zumindest für alle, die in einem gewissen Abstand sitzen, verteilt auf Balkon und Rang, als auch in der Umsetzung Gerberscher Choreographie und Körpersprache. Ihre Inszenierung arbeitet die Zuordnung der Geschlechter heraus, erzählt eine weiblich-christologische Parabel auf die Unmöglichkeit der Liebe ohne Hinzutreten eines Dritten, des Opfergedankens, der die Schuld des penetrierenden Mannes entsühnt – Liù - und seine eigene, tödliche Verletzbarkeit einsetzt. Liùs Selbstverstümmlung antizipiert die Defloration der Tochter des Himmels, die ihre wahre Apotheose ins Humanum noch vor sich hat. Einmal mehr erweist sich die Generalintendantin als etheologisch versiert, in Sandra Meurer findet sie die kongeniale Bühnengestalterin.

Gerber als Meisterin der Choreographie, sie führt in Körpersprachwelten, jede Handbewegung einstudiert, wenn die drei Funktionäre Ping, Pong und Pang in ein und derselben Szene die Hände schuldverdeckend in den Taschen vergraben, sie in unbeteiligter Beobachterpose auf dem Rücken der Unfähigkeit zum Mitleiden die Stütze geben oder verschränkt Rückzug und Abwehr zum Ausdruck bringen. Um dann wieder auf der kreisrunden Drehscheibe Welt das verspielte Kind im Manne heraus zu lassen. Wunderbar der Chiasmus, die Jungfrau muss „sterben“, während der Mann nicht über den entelechetischen status nascendi hinaus wachsen darf, Statisterie und Kinderchor treten auf, vom Knaben bis zum nackten Adoleszenten, alles im Dienst der Botschaft und der Mannheimer Ästhetischen Schule. Sandra Meurer arbeitet mit Konstrukten, das Tor zum himmlischen Unfrieden, mit Fluchtwegen, deren Unzugänglichkeit am Ende Erlösung andeuten. Klug wie jede Arbeit der Bühnenbildnerin.

Die farbpsychologisch stimmigen Kostüme von Dorothee Scheiffarth mal futuristisch-symbolistisch, dann wieder gediegen, der unmannhafte Kaisergreis halb Gärtner, halb Deng-Xiaoping. Männlicher Sadismus, Leder und Masken, als Attribute des Geschlechterkampfs. Selbst die Eunuchen wirken noch bedrohlich. Düster der zwielichtige Chor.

Das Orchester umjubelt. Dan Ettinger sieht mit gestylter Tolle aus wie ein Popstar und dirigiert wie ein vollendeter Meister. So muss Puccini gespielt werden! Einsatzgenau, mit Emphase.

Die Protagonisten: Caroline Whisnant, mit Stimme und Spiel in der Titelrolle die Verletzbarkeit schlechthin. Dramatisch (wie immer mit dem ihr eigentümlichem Tremolieren) mächtig, in lyrischen Passagen wunderbar einfühlsam. Unglaublich variantenreich, ausdrucksstark und identisch. Ein großer Abend auch für die weiteren Sängerinnen und Sänger: Cornelia Ptassek mit ihrem in Bann schlagenden Sopran bietet eine eindringlich schön singende und darstellende Liù, Michail Agafonov begeistert nicht nur in der Meisterarie des Calaf und weist einen Paul Potts in die sängerischen Schranken. Absolut präsent und konzentriert. Frank van Hove, dessen Bass wohl die eigentümlichste, schönste und unverwechselbare Färbung unter allen deutschen Fachkollegen hat, empfiehlt sich in der Rolle des Timur einmal mehr für Aufgaben in Bayreuth. Lars Moller, Charles Reid und David Lee beeindrucken als Solisten wie als Trio scurrile in den Rollen Ping, Pong und Pang. Jaco Venter überzeugt als Mandarin.

Das Publikum wie bei jeder Gerber-Inszenierung durchsetzt von einigen wenigen notorischen Krawallmachern, ansonsten tief beeindruckt, euphorisch die Protagonisten feiernd. Einschließlich des Regieteams um Gerber, Meurer und Scheiffarth. Zu Recht!

Frank Herkommer

 







Fotos: Hans Jörg Michel