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Fakten zur Aufführung 

SCALA DI SETA
(Farsa comica in einem Akt)
(Gioacchino Rossini)
21.Oktober 2007 (Premiere)

Nationaltheater Mannheim


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Auf der Kippe

Ach, wie komisch, von seinem Vormund zwangsverheiratet zu werden! Und Germano ist ja so gerne der ungebildete Laffe, Cousine Lucilla natürlich in masochistischem Einverständnis und widerstandsloser Ergebung die unglücklich Liebende. Dormont als der Einzige, der wirklich von nichts eine Ahnung hat- das macht ihm ja gar nichts aus. Dorvil der bloß quietistisch quängelnde, sich verleugnen müssende Kapaun der Ehre, schließlich Blansac das profillose Werkzeug einer fremdgesteuerten Familienplanung. Von wegen! Farsa hin, comica her, bereits Rossini lässt bei aller spielerischen Leichtigkeit diese Eindimensionalität nicht zu, und es ist das große Verdienst von Lukas Hemleb, diesen Ansatz konsequent umgesetzt und ausgebaut zu haben. Charaktere entstehen, oft gegen den Textstrich gebürstet, mit Eigenleben, zumeist schreiend komisch, zugleich subversiv, listig aufbegehrend, sprunghaft, und wäre es als Jack aus der gepackten Umzugsb ox, sprunghaft wie die Chancen, die sich urplötzlich eröffnen (und sei es bezüglich der sexuellen Orientierung). Chamäleons existentieller Wechselfälle, dabei immer mehrere Fenster der Verwundbarkeit offen. Die (Boden-)Klappe hält nicht, notdürftig Kaschiertes kommt wieder hoch, genauso wie jede Flucht nach oben, in die Ratio, auf halber Strecke stecken bleibt. Leben auf der Kippe (vorzüglich umgesetzt im mehrdimensionalen Bühnenbild von Roland Aeschlimann, der Wohncontainer, in dem das bürgerliche Leben sein Domizil der Vorläufigkeit findet, fußt wie eine Kippschaukel auf einem großen Rad). Verliebt ins Überleben dessen, was sich unverwechselbare Persönlichkeit hinter allen Erwartungen und Festschreibungen nennt. Wie bei Kafkas sieben bewachten Türen perpetuiert sich das Hineingehaltensein in eine Welt der Durchbrechungen, Durchkreuzungen und bedrohlichen wie lösungsweisenden, rettenden Offenheiten über die eigenen Wahrnehmbarkeiten und Lebensräume hinaus als Stigma des Weltseins schlechthin. Hinter allem befreienden Lachen, bei allem Vergnügen über Slapsticksalven, Situationskomik und Schlitzohrigkeit en gros bleibt eine Ahnung von Bedrohlichkeit und Ernst, ontologischen Ungesichertheiten.

Die geordnete Welt ist eine Farce, hinter diese Erkenntnis gibt es bei dieser atemberaubenden Inszenierung kein Zurück. Das vermeintliche Ende der Geschichte, mit geschlossenen Fensterläden andererseits nur der spätestens seit Irak ausgeträumte Traum der Neocons. Da seien der Schalk und die Libido vor!

Die Kostüme (Andrea Schmidt-Futterer) unterfüttern diesen Ansatz kongenial. Seidene Paulihandstrümpfe, denn in dieser Welt kommt manchmal alles auf die glückliche Hand an (Ernst Bloch, Spuren). Schuhdesign als Charakterspiegelung, der Gehrock und die latenten weiblichen Anteile. Billige Hochzeitsspitzen vom Türken nebenan für Camouflage hin zur travestiten Kenntlichkeit. Moda alta als Kontrapunkt zur Tristesse des Milieus.

Alexander Kalajdzic übersetzt die spielerische Leichtigkeit in entzückende, verzückende Musik. Konzentriert, farbenreich, elegant und federnd, oft mitreißend, mitunter grotesk, wo es die Handlung evoziert. Großes Dirigat mit großer Musik, die verzaubert, vereinnahmt und eine Ahnung aufkommen lässt, wie das Leben sich immer neu erfinden könnte.

Sechs Gesangssolisten, die ihr Bestes geben: Urkomisch und souverän Uwe Eikötter als Vormund Dormont. Marina Ivanova in der Rolle der Giulia betörend schön, ihre unglaublichen Koloraturen in Perfektion. Andrea Szántó gibt Lucilla eine wundervoll durchtriebene, Ohnmachten auf Bestellung produzierende Charakteristik, wobei ihr unverwechselbares Timbre, stimmliche Sicherheit und Glanz die Rolle enorm aufwerten. Dänenimport Lars Møller, formidabler Beau wie Franzosentransfer Boris Grappe, schlagen am Nationaltheater voll ein. Erzkomödiantisch - wenn der Herr ein Tänzchen wagt (frei improvisiert und elegant), und der Knecht täppisch wie ein Bär ihm nachgeifert. Lars Møller spielt sich an diesem Abend ins Zwerchfell des Mannheimer Publikums, dazu kommt seine angenehme Stimmführung, sonor und zugreifend. Ein Gewinn für das Ensemble wie Boris Grappe als der perfekte Stutzer und Narzisst Blansac, mit seiner wunderbar schlanken und eleganten Stimme. Simon Edwards verkörpert stilsicher den Dorvil, sein strahlender Tenor meistert die unglaublich hohe Partie ohne Fehl und Tadel.

Das Mannheimer Publikum ist begeistert. Minutenlange Ovationen, niemand bereut die vielleicht längere Anfahrt für eine nur gut anderthalbstündige Opernaufführung, deren Musik klingt, als habe sie Rossini nicht vier Jahre vor dem Barbier, sondern eine ganze Generation vorher geschrieben. Fazit: Ein Fündlein, das aufzuheben (im dreifachen Hegelschen Sinn) sich verlohnte.

Frank Herkommer

 


 
Fotos: Nationaltheater Mannheim