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Fakten zur Aufführung 

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)
12. April 2008 (Premiere)

Nationaltheater Mannheim


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Sitzordnungen

Gregor Horres inszeniert in Mannheim einen protestantischen Holländer, bei dem alle körperlichen Aktionen einschließlich des Sexus ihre Vergewisserungskraft verlieren. Stühle bestimmen das (Menschen-)Bild. Sitzordnungen treiben die Geometrisierung der Erscheinung des Menschen voran (was im Bühnenbild und Lichtspiel seine Fortsetzung findet). Die Körperformierung auf dem Stuhl ermöglicht dem Holländer Triebabwehr und Selbstkontrolle. Allein der Glaube (an Sentas Erlösungspotential) kann Gewissheit und Identität verschaffen - oder eben nicht. Sucht der sitzende Yogi in der Positur des âsana, die menschliche Existenz übergreifend, das ruhige Eintauchen in das Wesen des Lebens selbst, bleibt der Holländer dieser Inszenierung das zwar beherrschte, aber grundsätzlich bewegliche, unruhige und arhythmische Wesen, dessen Bewegungsfreiheit zugunsten einer vermeintlich heilsnotwendigen Innerlichkeit freiwillig eingeschränkt ist. Wer steht und im Unterschied zum Sitzenden weg laufen kann, hat nur die Freiheit zum Tode, wie Senta am Ende beklemmend demonstriert.

Entsprechend eine nüchterne, fast schon antisinnliche Inszenierung, ohne Platz etwa für ungebetene (in diesem Fall seemännische) Nachtschwärmer, die wie in Platons Symposion in dionysischer Potenz alle (Sitz-)Ordnungen aufheben könnten. Verharrende sind sie, die auch als Liebende nur die Plätze tauschen. Sich wieder setzen, statt sich zu widersetzen.

Seinem verinnerlichenden Wesen entsprechend, wirkt dieser protestantische Ansatz oft statisch, anstrengend, berührt stellenweise die Nähe zur konzertanten Aufführung. Stühle als Medium der Botschaft. Dass gegen Ende der Holländer kurz und sinnlich die Stühle fliegen lässt, als Andeutung des möglichen Königswegs, um dann doch wieder Platz zu nehmen und dem Untergang Sentas kontemplativ quietistisch beizuwohnen, gehört zu den nachhaltigen Bildern. Sein letztes Aufspringen und der folgende kontrollierte Abgang weisen nicht in Richtung aufrechten Gang, für den das Sitzen dann Vorstufe wäre, sondern auf ein Konformgehen mit der Erkenntnis: Der sinnlichen Welt und damit dem Ewig-Weiblichen fehlt die Erlösungsqualität.

Das Bühnenbild (Sandra Meurer) entsprechend puristisch: eine omnipräsente Turbine, Symbol für die Triebkraft, Eros und Todestrieb in einem, immer wieder Stühle wie aus dem Wartesaal einer Therapiepraxis zur Versöhnung der Geschlechter, über allem ein Geflecht aus Stangen mit unterschiedlich weiten Abständen, mal flach, mal gestaffelt, das als Dach nicht wirklich Behausung gewährt. Wo einem, frei nach Thomas Bernhard, die Leute auf den Kopf machen können.

Die Kostüme (Yvonne Forster) verfolgen denselben Ansatz. Sinnlichkeit verdeckende Overalls, halbherzig herab gelassen, verklemmt geschürzt, ohne den Unterleib von Anfang an freizugeben. Das unvorteilhafte Kleid für Senta formt um diesen Preis aus ihr eine Mischung aus Magna Mater, Kybele und deren Wiedergängerinnen von Nikki de St. Phalle.

Friedemann Layer und das Orchester des Nationaltheaters machen aus dieser Inszenierung jenseits aller Strittigkeit des Regieansatzes ein Ereignis. Brillante Übergänge, Musik als seelenlandschaftsgestaltender Fluss, Wagner als Tremendum und Numinosum.

Mit der Besetzung der Senta durch die dramatische Sopranistin Caroline Whisnant unterbricht Horres eine gegenläufige Traditionskette und provoziert schlanke Hörgewohnheiten. Senta erhält durch diese Besetzung ihre angestammte Ebenbürtigkeit zurück, eine Souveränität, die sie sowohl gegenüber dem jugendlich-schlanken, in Mannheim Kultstatus genießenden Tenor Stefan Vinke (Erik) als auch dem (vom erkrankten Thomas Jesatko) mimisch dargestellten Holländer gegenüber einbringt, dem Karsten Mewes vom Pult aus mit Bravour seine ausdrucksstarke Wagnerstimme gibt. Caroline Whisnant wie schon als Elektra ungemein präsent, die Wechsel von lyrischen Piani zu fulminanten, expressiven dramatischen Forte, die Intonationspräzision, das ungeheure Stimmvolumen und die seelenvolle Strahlkraft machen sie zum Erlebnis des Abends. Martina Borst gibt der Mary unverwechselbare Gestalt und angemessen Stimme, Charles Reid verleiht dem Steuermann Impulsivität und eine schöne, charakteristische Stimme. Seine ganze Erfahrung und sein ausgereiftes Können legt Friedemann Kunder in den Daland.

Die Chöre, einstudiert von Tilman Michael, zeigen erneut, dass sie zu Recht zu den führenden Wagnerchören weltweit gezählt werden.

Beim Publikum gespaltene Reaktionen zwischen völliger Ablehnung und wohlwollender Annahme. Die Geisterschlachten dauern bis tief in die Nacht. Um jede (Gesangs-)Stimme wird gerungen. Wer ablehnt, sieht das Gesamtpaket und bezieht in sein Missfallen Kostüme und Bühnenbild mit ein. Die anderen, die das Konzept von Gregor Horres annehmen, zollen allen aus dem Regieteam Respekt und Beifall. Enthusiasmierte Stürme, wie sie Mannheim bei neuen Wagnerinszenierungen gewohnt ist, wollen an diesem Abend nicht aufkommen. Wie gut, dass Stühle gegebenenfalls immer wieder für etwas zu gebrauchen sind.

Frank Herkommer

 








Fotos: Nationaltheater Mannheim