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Fakten zur Aufführung 

AMADIS DES GAULES
(Johann Christian Bach)
17. Oktober 2009 (Premiere)

Nationaltheater Mannheim


Points of Honor                      

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Leere Freiheit

Die Gefangenen werden aus der okkulten, dämonischen Welt des Arcalaus befreit, um am Ort der süßen Erholung (Arie der Choryphäe: Venez dans les plus doux asiles) nichts Besseres mit ihrer neu erlangten Freiheit anzufangen zu wissen als shoppen. Kein Wunder, dass dem roten Inferno ein schwarzer Himmel korrespondiert. Die Tragetaschen der Glitzerwelt in der Hand, die Edeltüte über den Kopf gestülpt, beide schweben vom Ideenhimmel herab, über die Laufstege des gehobenen Lebens schiebt und drängt eine blinde, gesichtslose Masse. Ausfluss eingeschränkter, egoistischer Individualität, die Johann Gottlieb Fichte als Frucht der leeren Freiheit beschreibt, die sich im Theoretischen nur mit Ergebnissen der Empirie auffüllt, im Praktischen lediglich mit „unmittelbar und praktisch Nützlichem“. Schon steht das Fragezeichen hinter den Guten, also uns, denen im Publikum. Beschreibung einer Schlüsselstelle der atemberaubend spannenden, eindringlich schönen und sich allen einfachen Lösungen verweigernden Inszenierung, die Nicolas Brieger mit der Noch-Barockoper Amadis des Gaules am Nationaltheater in Mannheim gelungen ist.
Dabei weisen zu Beginn alle Anzeichen auf Klischee hin. Der Böse, Arcalaus, ein todverfallener Gruftie, zwei Pasolini-Knaben an der Leine, chiens bizarres, viel Lack und Leder auch sonst. Die Einteilungen scheinen klar: Hier unten die überkommene schwarze magische Welt, ungleichzeitig und dennoch virulent, der Prophet ist tot und lässt schön grüßen, die Welt der Geschwister Arcalaus und Arcabonne, im Schneewittchen-Sarkophag Fleisch von ihrem Fleisch, der im Eifersuchtduell gefallene Schattenbruder. Konjunktion von Sexualität und Todestrieb, die Welt von Ehrenmord und Blutrache, Zwangsheirat als Ausfluss schicksalhafter Einordnungen, Erniedrigung als Lustprinzip. Und oben, wo das Leben einen höheren Gang nimmt, als Kontrast das sich herzende perfekte Paar. Amadis und Oriane, ganz in weiß, die Hochzeitskleidrüschen rauschen. Spätestens als die vielen Kleider für das Püppchen samt Stilmaske mit ihrem Konterfei vom Ideenhimmel nieder kommen und dadurch der schöne Schein als pure Idee, als bloße Illusion entlarvt (!) wird, Spiegelungen des Mannes, Individuum und Menge (der unglaubliche Chor) nicht mehr zu unterscheiden sind und hinter der Maske von Oriane sich die Verwesung verbirgt, wird klar: Alle Klischees werden durchbrochen. Aus der süßen Braut wird die rote, frauliche Sinnlichkeit verkörpernde Fordernde. Die eifersüchtige Bardame mit den unmöglichen Stöckelschuhen. Die Abspaltung von Sexualität und ihre technische Handhabbarkeit mittels Toys und verdinglichender Macht sieht sich als Ausdruck leerer Freiheit demaskiert - die ihr korrespondierende Selbstverstümmlung der Sinnlichkeit der bürgerlichen Welt in nichts besser. Verstörend schön das Bild von den gefangenen Frauen, der Pressrahmen die Männer, ohne Hände und damit Zugriff auf ihr Leben und ohne Köpfe und somit Recht und Zutrauen auf eigene Reflexion. Die dämonische Macht der Liebe bis hin zum Selbstopfer gehört in den Bereich des Vorrationalen, Unableitbaren, das lernen auch Amadis und Oriane. Wenn mit dem Okkulten nicht auch der Zauber in der Welt verloren gehen soll. Und darum endet die Parabel, die uns Nicolas Brieger erzählt, mit der Apotheose einer Urgande, die einem überdimensionalen Schmetterling ähnelt. Die Vernunft bekanntlich nur seine Raupe. Utopia der Versöhnung von Mann und Frau.

Brieger erweist sich als Könner auf dem Gebiet der Etheologie. Der ganze Theaterraum wird mit einbezogen, Türen versperrt und der Zuschauer erkennt sich als Eingeschlossenen, wenn Ledermänner die Unentrinnbarkeit unfrommer Phantasien symbolisieren. Der Chor mischt sich unter das Volk und gewinnt an Eindrücklichkeit. Das Bühnenbild vom kongenialen Roland Aeschlimann ermöglicht die Durchkreuzung des Einlinearen, Monokausalen. Stelen, auf kaltem Marmor, den Stützen eines Racks ähnlich und zugleich feine Huldigung an Orgelpfeifen-Vater Bach, Stege, die wie eine Umsetzung barocker Arien auf- und abwogen, Klappen, die als Falltüren und als Aufstiegsmöglichkeit die Ambivalenz des Lebens in sich bewahren. Raumeinteilungen, die zu lange nachwirkenden Bildern und Tableaus die Möglichkeiten eröffnen, Requisiten, die ironische Distanz aufweisen, die über der Schönheit von Musik und Gesang das Skandalon der Geschichte nicht vergessen gehen lassen soll. Als zweiter, ebenbürtiger Raumgestalter erweist sich Alexander Koppelmann mit seiner exzellenten Lichtdramaturgie.
Die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer gegen den ersten Anschein alles, nur nicht schwarz-weiß. Wenn in Arcabonnes Kostüm das Rot hervor leuchtet und ihre Rollenzuweisung transzendiert, wenn Schmidt-Futterer die unterschiedlichen Materialien von Stoff über Seide, Latex und Leder einsetzt und damit klar wird: Keine Rolle ist endgültig festgelegt. Filigrane Liebe zum Detail korrespondiert bei der Kostümdesignerin mit nahezu verschwenderischem Phantasieeinsatz. Andrea Schmidt-Futterer schafft Typen ohne Stereotypien.

Mit Reinhard Goebel hat das Nationaltheater einen ausgewiesenen Barockinterpreten gewinnen können. Sein Dirigat wagt Aktualisierungen, streift Filmmusik, wenn die Manen nach Rache schreien und die Bläser die gewollt schrillen Töne dehnen. Goebel macht Zwischenstation zwischen Barock und der Zauberflöte. Spielerische Leichtigkeit gepaart mit utopischem Überschuss. Konzentriert und exponiert. Eine Meisterleistung.

Der Chor (Leitung: Tilman Michael) spielt und singt an den Grenzen des Möglichen. Ihm wird in der Aufstellung Höchstes abverlangt, ohne dabei im Klang, an Präzision und gesanglicher Schönheit das Geringste einzubüßen.

Maximilian Schmitt in der Titelrolle des Amadis mit seinem strahlend-schönen Tenor Idealbesetzung. Gefeiert auch Marie-Belle Sandis in der Rolle der Arcabonne, deren erotische Stimmfärbung der Rolle ihr besonderes Profil verleiht. Begeistert aufgenommen die spielerisch-jubelnden Koloraturen von Antje Bitterlich in der Rolle der 1. Coryphée. Köstlich Anne-Theresa Albrecht als umfallende Göttin, dazu als 2. Coryphée eingesetzt. Eine Offenbarung Cornelia Ptassek als Oriane. Ihre expressive, seelenvolle und stimmgewaltige Stimme gibt der Oriane Statur und Charakter. Thomas Berau als Arcalaus ebenso ein Glücksgriff. Seine hoch kultivierte Stimme, seine Fähigkeit zur absoluten Präsenz machen aus einem Klischee eine große Gestalt. In den Rollen des Schattenbruders Johannes Wimmer, La Haine wird von Jun-Ho Lee gesungen, La Discorde von Pei-Ying Lee.

Das Publikum zeigt sich begeistert und tief beeindruckt. Man muss in den Annalen des Nationaltheaters weit zurück blättern, um eine Premiere zu finden, bei der Protagonisten und Regieteam so enthusiastisch gefeiert wurden wie an diesem Abend. Keine Buhrufe, das hat man schon lange nicht mehr gehört. Und das ist gut so.

Frank Herkommer

 








 
Fotos: Hans Jörg Michel