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Fakten zur Aufführung 

WERTHER
(Jules Massenet)
8. Januar 2006 (Premiere)

Theater Kiel

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Happy Desaster

Gehen wir doch ruhig dem nachvollziehbaren Kieler Inszenierungsfixpunkt, sich ganz auf die Befreiung, die Emanzipation Charlottens zu kaprizieren, einmal nach. Worin besteht denn ebenjene in Herrn Johann Wolfgang von’s Briefroman? Doch wohl klar formuliert in dem freiwilligen Selbstmord Werthers, indem er sich selbst opfert, den (moralisch) falsch Liebenden. Wodurch er ihr ja das Leben in der bürgerlichen Liebesweise ermöglicht zu einer Zeit da die Idee von Sittlichkeit, also Freiheit, dieser bürgerlichen Welt noch nicht grundsätzlich widersprach.

Das war dann gut hundert Jahre später bei Massenet anders, reichte nicht mehr hin, denn man steht nunmehr ja fest in der Erkenntnis, dass Liebe in der Welt, die nicht mehr Sittlichkeit, sondern dem Kapital dient, unmöglich ist, unmöglich gar als richtig vom Subjekt zu erkennen ist. Nur kurz ist das überhaupt noch vorstellbar: Als Moment. Aber Charlotte schafft das, emanzipiert sich, wenn man so möchte, indem sie Werther wissentlich liebt, obwohl es faktisch dafür längst zu spät ist, gänzlich irreal ist: einmal weil die bürgerlichen Bedingungen, also des Vaters mehr noch Alberts Welt dagegen stehen, dann auch weil der (gewollte) Selbstmord nicht mehr aufzuhalten, fatal ist. Aber Charlotte ist das jetzt egal, denn eines muss noch, einmal unreflektiert gesungen sein: die Wahrheit als offenes Liebesgeständnis im Vergehen des Geliebten. Nur hier liegt die Befreiung bei Massenet, in dieser gefühlten Wahrheit. Allein in ihr hat Charlotte die verwässerte Schablonengefühlswelt überstiegen und sich hingegeben.

In Kiel besteht sie nun szenisch einfach darin, sich der Männerwelt komplett entledigt zu haben. Albert und Werther sind niedergestreckt. Es ging mächtig hin und her, und schlussendlich muss man nach dem, was die Szene sagt, eingestehen: recht so, richtig so. Diesem Heuchler, der ihr mit der Waffe das Liebesgeständnis abtrotzte, den Bauch mit Blei gefüllt zu haben. So empirisch kann Befreiung verstanden werden, kann Oper sein. Kann sie? Nach dem Motto: Albert weg, Werther weg, Probleme weg – das Leben kann beginnen, wenn die Spinner fort sind. Liegt in der Dehumanisierung Charlottes denn wirklich ein Befreiungsmoment? Wo soll sie denn jetzt noch leben, und wie ohne Liebe?

Beide Männer agieren zunehmend mit den Mitteln massivster körperlicher Auseinandersetzung, die der musikalischen Sprache Massenets eine Wagnerische, besser noch eindimensional gewalttätig-ruppige Antwort geben und weder gesellschaftlich noch musikalisch plausibel belegt werden können, somit motivationslos herausgeblasen sind. Das soll an Hilsdorf orientiert sein? Dieser Ansatz konterkariert sich im vierten Akt selbst, indem die Musik die Probe des absurden Theaters andauernd unterbricht und etwas ganz anderes, auch in einem anderen Tempo erzählt, Musik, die auch eine Hoffnung transportieren möchte, wie es in dem Kindlichen, dem Naiven trotz seines religiösen Grusels doch angelegt ist – so weit sollte man sich dem französischen Naturbegriff vielleicht einmal zu nähern wagen. Wenn bei Massenet überhaupt jemand das Anrecht hätte, Werther zu erschießen, so ist es Sophie (Nomen est omen!), die man auch hier viel zu unsinnig angeht, denn sie ist ja, vielleicht gar mit Johann, der gemeinsam mit Schmidt auch der Kastrationslogik zum Opfer gefallen ist und komplett herausgestrichen wurde, diejenige, die alles als Erstes sieht, also intuitiv spürt, und Werther persifliert, seine Grille, sich für „die Liebe“ unbedingt zu opfern, stoppen möchte: Vor dem realgeschichtlichen Hintergrund der so opferbereiten Deutschen ein echt französisches Therapieangebot, das aber in Kiel wie in der Geschichte nicht mal erwogen wurde.

Dabei hätte man alles so schön beisammen gehabt: Mit Johannes Willig einen tollen Dirigenten, der einem indessen die Stirn in Falten legt. Wie kann denn ein solcherlei Arbeiter am Filigran des Werks, ein Ästhet des Details, der wunderbar langsam sich steigernden Phrasen, der feinst ausbalancierten Übergänge eine derartige Realisierung dulden und auch die Streichungen? Ein Rätsel, oder ist die Ästhetik des Formschönen, des leisen Genauen womöglich schon die Folge einer inneren Abkapselungshaltung, frei nach: ihr da oben und wir hier unten? Hört man auf das etwas zu eigenwillig angeschlagene langsame Tempo in dem ersten Zwischenspiel, das ihm das Präimpressionistische fast gänzlich nimmt und damit seinen Sinn, hat man schon mehr als einen Hinweis für dieses Gesamtresultat.

Und da jedenfalls gehen insgesamt weder Musik und Szene noch Gesang und Szene d’accord, was angesichts der hervorragenden Besetzung bedauerlich ist: Hector Sandoval ist schon alleine eine Reise wert. Ohne jedes Metall singt er die Partie stilsicher und mit Bonheur. Sehr selten nur klingen Registerwechsel nicht übergangslos. Auch die schöne Marina Fideli, die viel Köper zeigen muss, einiges zu viel für die propagierte Marschrichtung (oder geht es wirklich um Grabschen am Bustier, um die Identität von Carmen und Charlotte?). Der Höhepunkt des Abends ist ihr dritter Akt, den sie mit schillerndem Timbre, eleganter Phrasierung und mit voller Mezzostimme hervorragend angeht. Man bemerkt hier, welches Potential als Bühnendarstellerin in ihr schlummert. Die Partien des Albert und der Sophie sind mit Mirko Janiska und Michaela Rams recht formidabel besetzt und bringen Freude an das lächelnde Ohr, das gleichwie der schön einstudierte Kinderchor evoziert.

Das Premierenpublikum goutierte diese Verballhornung Massenets jubelnd, weil es eben Werther ist und nicht ihr Freischütz. Und man fragt sich nur, aber nicht lange, wer hier eigentlich so glücklich ist und warum? Glücklich nämlich darum, weil das wahre Unglück (was heißt das?) ausgespart wurde. (wh)


Fotos: © Olaf Struck