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Fakten zur Aufführung 

LEAR
(Aribert Reimann)
18. September 2010 (Premiere)

Staatstheater Kassel


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Macht und Zerstörung

Der König ist krank und alt. Am Ende seines Lebens liegt er in der Klinik – und mit ihm seine Vertrauten im Hofstaat: der Graf von Gloster und der weise Narr. Drei durch Vorhänge abgetrennte Krankenzimmer bilden das Zentrum von Mathis Neidhardts Bühne. In dieser Umgebung lässt Paul Esterhazy den Lear spielen, Aribert Reimanns Shakespeare-Vertonung. Hier entspinnt sich das Drama um den König, der sein Erbe an seine Töchter verteilt, von ihnen verstoßen wird und einsam stirbt.
Vielleicht sind die drei alten bärtigen Männer aber auch nur drei Facetten einer einzigen sich mehr und mehr selbst entfremdenden Persönlichkeit, denn sie sind sich äußerlich so ähnlich wie die Töchter und die Schwiegersöhne Lears, wie auch die Söhne Glosters: der treue Edgar und der intrigante Edmund – alle nur Seiten je eines Charakters? Esterhazys Deutung lässt auch diesen Schluss zu.
Diese tragische, von Lear selbst in Gang gesetzte Katastrophe verträgt die desillusionierende, nüchtern-klinische Umgebung. Ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung Esterhazys ist sein Umgang mit dem brutalen Plot. Die Blendung Glosters wird ebenso wie all die Morde nicht bluttriefend, gar reißerisch darstellt. Ganz im Gegenteil, oft wird die Gewalt nur angedeutet, ist zu erahnen. Mitunter wird das Grauen videomäßig bebildert: hier rohe Eier, die zerbersten, dort eine Spritze voll Blut, die sich über Zuckerwürfel ergießt. Die Botschaft ist klar, doch wird sie halbwegs schonend übermittelt. Gleichwohl steht außer Zweifel: hier geht es um Selbstzerstörung auf der einen, pures Ergattern der Macht auf der anderen Seite. Lear als zunehmend psychisch verwirrtes Individuum: in der Sturmszene des dritten Aktes spricht Lear von „dem Orkan in meinem Inneren“ – da ist kein Trost, keine Hoffnung.
Reimanns Lear, 1978 unter lautstarken Protesten uraufgeführt, wurde bereits wenige Jahre später neu inszeniert und gehört längst zu den meistgespielten und am häufigsten gezeigten zeitgenössischen Opern, also zum „Kanon“. Obwohl der Lear fraglos sperrig ist, ohne Lichtblick. Auch musikalisch stellt er höchste Ansprüche an die Rezipienten – an die Interpreten ohnehin.
Patrik Ringborg leitet mit größter Souveränität den Riesenapparat des Staatsorchesters, das auf dem hinteren Teil der Bühne sitzt. Da gibt es gewaltige Klangexplosionen – und das Gegenteil davon. Subtile Klangwirkungen von der einsam ihre Kreise ziehenden Bassflöte über das Streichquartett (die Begleitung des Narren), flirrenden Cluster der Streicher bis zum knalligen, von Schlaginstrumenten und Blechbläsern beherrschtem Tutti. Für genaue Koordination mit den Solisten sorgen Giulia Glennon und Xin Tan als Subdirigentinnen vom Parkett aus. Sie geben den Sängerinnen und Sängern genauestens ihre Einsätze.
Vorne vor dem Orchester wird agiert und gesungen. Espen Fegran stürzt sich mit Haut und Haar in die seelischen Zustände des König Lear – völlige Identifikation mit seiner Rolle, die er stimmlich überzeugend ausfüllt. Krzysztof Borysiewicz ist der Graf Gloster mit stets kontrolliert geführtem Bariton, Michael Hofmeister sein Sohn Edgar – als solcher Tenor, als vermeintlich Wahnsinniger namens Tom dann Countertenor, dessen großes Lamento unter die Haut ging.
Edmund, ebenfalls Glosters Sohn, der als Bastard gilt, wird von Rainer Maria Röhr mit all der nötigen Aggressivität und Verbissenheit ausgestattet. Stimmlich ist Röhr allerbestens disponiert, nachgerade eine Idealbesetzung.
Lears Töchter sind drei an der Zahl, Goneril und Regan die beiden, die es auf nichts als Macht und Besitz abgesehen haben. Lona Culmer-Schellbach und Ruth-Maria Nicolay meistern diese Partien mit all ihren technischen und musikalische Tücken ganz ausgezeichnet. Caroline Stein ist die dritte Tochter, Cordelia, die zu Beginn Verstoßene. Reimann charakterisiert sie völlig anders, nicht mit kantigen Koloraturen oder schroffen Intervallen sondern mit lyrischen Phrasen. Ausgerechnet sie ist es, die ihrem Vater im Angesicht des Todes all ihre Liebe und Zuneigung schenkt.
Das fabelhafte sängerische und darstellerische Niveau dieser Inszenierung setzt sich fort auch in den mittleren und kleineren Partien. Mario Klein gibt den König von Frankreich, Geani Brad den Herzog von Albany, János Ocsovai den Herzog von Cornwall. Johannes An ist ein perfekter Darsteller des Grafen von Kent, Dieter Hönig in der Sprechrolle des Narren. Aus dem Off kommt der Gesang der Männerstimmen des Opernchores (Einstudierung: Marco Zeiser Celesti).
Kassels Premierenpublikum teilt sich in zwei Lager: solche, die offensichtlich wissen, was auf sie zukommt – und solche, die dies nicht wissen und deshalb nach der Pause gar nicht erst wieder ihre Plätze einnehmen. Dabei war doch von vornherein absehbar, dass hier keine Komödie gespielt werden würde. Die, die geblieben waren, zeigten sich begeistert und brachten Orchester, Ensemble, Regieteam und auch dem auf die Bühne gebetenen Komponisten ihre Sympathien entgegen.

Christoph Schulte im Walde

 











Fotos: © Nils Klinger