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Fakten zur Aufführung 

SCHWEITZER - DAS MUSICAL
Udo Zimmermann)
9. Februar 2008

Konzerthaus Karlsruhe


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Ehrfurcht vor dem Leben – Ein Nachruf?

Adolf von Harnacks bissiges Diktum, dass der historische Jesus das unmittelbar bevorstehende Reich Gottes und das damit verbundene Ende der Welt erwartete und stattdessen die Kirche kam, beschreibt, was den elsässischen Neutestamentler Albert Schweitzer bereits in jungen Jahren umtrieb. Er sah in Jesu brennender Naherwartung dessen historischen Irrtum und in der Ent-Eschatologisierung seiner Botschaft durch die junge Kirche deren Konstruktionsfehler und Sündenfall. Schweitzer erkannte, dass eine materielle Ethik, die mit der nächstfälligen Auflösung aller Weltordnungen rechnet und darum etwa auf Produktionsverhältnisse (Modell christlicher Urkommunismus) ebenso wenig Rücksicht nehmen muss wie auf Familienstrukturen (nach Verwitwung Wiederverheiratungsvorbehalt), sich auf Dauer weder in der alltäglichen Wirklichkeit noch begründungstheoretisch durchhalten lässt.

Wollte man unter Umgehung seiner Selbstzeugnisse psychologisieren, könnte man Schweitzers Entschluss zum Aufbaustudium Medizin und seine schweißtreibende Doktorarbeit in Lambarene als Flucht vor diesen Einsichten deuten. Der Kryptoagnostiker, wie noch das Standardlexikon RGG (Religion in Geschichte und Gegenwart, die Bibel protestantischer Gelehrsamkeit) vermutet.

Udo Zimmermann, junger Realschullehrer für Musik und Evangelische Theologie und leidenschaftlicher Musicalschreiber, erweist sich als erstaunlich profunder Kenner des weltberühmten Organisten, Bachliebhabers und Friedensnobelpreisträgers. Er sieht zu Recht keinen Entschluss, sondern eine Entscheidung (Kierkegaards Entweder - Oder), vor die sich der junge Theologe gestellt sah: spätberufener Arzt zu werden und damit sich seiner Bestimmung gemäß zu verhalten. Im Erkennen des Kairos, des qualifizierten Augenblicks und seiner Inanspruchnahme, für den Gläubigen der Anspruch Gottes, kommt das Eschatologische auch nach der Parusieverzögerung zu seinem Recht. Im Augenblick meldet und entscheidet sich die Ewigkeit. Dieser rote Faden durchzieht das gesamte, dreistündige Musical.

Jetzt wird stimmig, was Zimmermann auf so herrlich heitere, an My Fair Lady erinnernde Weise als den geistigen Urknall, das Heureka Schweitzers im Herzens Afrikas darstellt: Das Finden der ethischen Weltformel, die als Begründung jedes materielle oder an eine Naherwartung geknüpfte sittliche Einzelgebot übersteigt. Die Ehrfurcht vor dem Leben, ideengeschichtlich virulent bis in heutige Entwürfe wie das Projekt Weltethos von Hans Küng. Wieder irrt die RGG und ist Zimmermann im Recht: Schweitzer war auch nicht der verkappte Pantheist; er suchte nach einer allgemeingültigen Formel, auf die auch der Glaube zurückgreifen kann und die darum universelle Dimension haben musste.

Udo Zimmermann wirkt mit seiner Lesart überzeugend dem weit verbreiteten Irrtum entgegen, Gott ginge im sittlichen Handeln auf und begebe sich damit in die Verfügbarkeit des Menschen (die Pose des Kulturprotestantismus). Damit verliert dieses wunderschöne Laienmusical jeglichen Beigeschmack von Moralin und sittlich enger Inanspruchnahme. Helene und Albert wird eine erfrischende Natürlichkeit eröffnet. Mit Irren und Hadern, mit Sehnsucht und Ängsten. Mit Frust und Lust. Dass letzteres auch ohne Überschreiten von Geschmacksgrenzen und familienfreundlich darzustellen möglich ist, demonstriert diese Inszenierung.

Das Vorbild Schweitzer besteht weder in seiner sittlichen Größe (für Normalsterbliche ein paar Schuhnummern zu groß), noch in seinem Frömmigkeitstypus. Zimmermann lädt ein, wie Schweitzer seine jeweilige Berufung zu erkennen und in der Entscheidung anzunehmen. Kein Missionszeltatmosphäre, aber ein Stück für Menschen, die eine Voraussetzung mit bringen müssen: Lust an Auseinandersetzung mit christlichen Fragen. Darin besteht der Unterschied zu Produktionen wie Johannes Reitmeiers Ludus Danielis, derzeit am Pfalztheater Kaiserslautern, das von der Kraft der Menschheitsmythen und Allgemeingut gewordenen Legenden lebt.

Und eine zweite Voraussetzung: Die Freude an einer spannenden Liebesgeschichte zweier großer Persönlichkeiten, Helene und Albert.

Die Musik: Erfrischend, ansprechend, mal ergreifend, mal mitreißend. Pfiffig untermalte Gassenhauer und betörende Balladen, Medleys und zärtliche Duette, einsatzgenauer Chorgesang und von den Stühlen reißender Halleluja-Gospel. Viele der Songs radiogeeignet. Oft jucken die Finger und wollen mitklatschen. Texte, die sich reimen, ohne Schlagandrohung. Nie banal oder trivial. Aber auch nicht schwermütig und gedankenüberladen.

Die Musiker: Vier erstklassige Instrumentalisten, live, Andrea Bohmüller am Piano, Michael Wien am Schlagzeug, Norman Trapp (E-Gitarren) und Manfred Lösche am Bass. Bis auf zwei Protagonisten alle weiteren Rollen mit enthusiasmierten Laien besetzt. Ein grandioser Einfall, der Authentizität vermittelt und auf der Kommunikationsebene erreicht, was selten vorkommt: Das Gefühl des Besuchers, dass seine Sache verhandelt wird. Und dass alle, die da oben auf der Bühne agieren, hinter dem stehen, was sie singen, tanzen, sagen und spielen. Im Karlsruher Konzerthaus entsteht Gemeinde außerhalb der Kirchenmauern.

Rebekka Mack (Helene) sollte mit dieser Ausstrahlung, eine riesige Musicalstimme, tänzerisch und schauspielerisch ebenfalls phantastisch, entweder nach Amerika wechseln, wo sich Freikirchen als die wahren Volks(ansprechenden)-Kirchen erweisen und niemals wie die deutschen Großkirchen solche Missionstalente brach und das Medium Musical links liegen lassen würden oder hier unbedingt professionell weitermachen. Johann Günther (Albert) mit einer wunderschönen, klaren, die Höhen ausgreifenden, erotischen Tenorstimme, der Greis Schweitzer mag es ihm nachsehen, sorgt neben Rebekka Mack für die sängerischen und schauspielerischen Höhepunkte.

Wie die beiden Regisseure Werner Köhler und Heiko Raupp nach kürzester Zeit vergessen machen, dass fast ausschließlich Laien auf der Bühne agieren, beeindruckt stark. Mit einfachen Mitteln (aber mit über 200 mehr als ansehnlichen, detailverliebten, zeitgetreuen Kostümen, nadelführend Sybille Gänßlen-Zeit) wird ein unglaubliches Tempo inszeniert. Low budget-Apologeten, hier gibt’s zündende Ideen und Munition! Verantwortlich für das Bühnenbild: Barbara Stoeß und Ira Zimmermann (des genius loci Gattin). Bühnenbildmalerei Angelika Steininger.

Das Publikum: So gemischt wie die Gottesdienstbesucher am Sonntag bei Pfarrer Hildbrand in Karlsruhe-Neureut. Von jedem etwas, viele Alte, genauso viele Junge, einige evangelikal, die meisten volkskirchlich oder sogar liberal. Musical fürs (Kirchen-)Volk. Alle lassen sich ansprechen, hören zu, sind begeistert. Zugabe und standing ovations.

Ein Nachruf? Nur noch eine von sechs Aufführungen, auch sie wie alle vorherigen längst ausverkauft. So viel Liebe, Engagement, Resonanz und überraschende Qualität. Kein Abgesang auf Schweitzer! Lambarene darf nicht sterben! Ihre Berufung, Herr Zimmermann!

Frank Herkommer

 
















Fotos: Sven Schiebel