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Fakten zur Aufführung 

TIEFLAND
(Eugen d'Albert)
5. Februar 2010
(Premiere: 12. Dezember 2009)

Pfalztheater Kaiserslautern


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Homo homini lupus

Heinz Lukas-Kindermann verwandelt eine Geier-Wally für Musikalische, das dramaturgisch ausrechenbare Werk eines katalanischen Gulbranssen, die diffuse antizivilisatorische Kritik, die in der Tiefland-Rezeption einer Riefenstahl der Nazi-Barbarei ideologische Unterfütterung bietet, in ein unwiderstehliches, vereinnahmendes, mitunter verstörendes, beeindruckend stimmiges, mehrschichtiges Sozio- und Psychogramm, auf Zeithöhe, ohne einen Leitfaden für Aktualisierungen à la Natascha Kampusch oder das Stockholmsyndrom einzuweben. Der Andere aus dem Hochland bleibt der Fremde, ohne dass die Regie ihm einen Fes aufzwingt, den Gothic-Mantel umhängt oder ihm Pajes anhaftet. Der Seelenausleuchter aus Österreich, unterstützt von Dramaturg Andreas Bronkalla, lässt die Geschichte von sexueller Ausbeutung, unerwarteten Hörigkeiten, Armutsbiografien, Selbstauslöschungsphantasien, Vergesellschaftung, soziologischen Ungleichzeitigkeiten, Anpassungsdruck und Erlösung aus der Feder des Àngel Guimeà sich selbst erzählen. Lukas-Kindermann verzichtet auf plumpe Deutungskrücken, traut dem Theaterbesucher eigene Assoziationen, Übertragungen und den mutigen Blick in seine unerforschten Seelenbezirke zu. Eine metamorphisierende Wolfsgeschichte, allzeit gegenwärtig ein in den Bühnenraum hängender, erlegter Wolf, wobei sich keine der Figuren (ebenso wenig der Zuschauer) sicher sein kann, wer gerade Jäger oder Ge- und Erjagter ist. Auch der Held hinterlässt im Schlussbild blutige Spuren. Der Mensch als des Menschen Wolf. Lukas-Kindermann nimmt zum einen den Impetus von Thomas Hobbes auf, indem er das okkasionell mörderische, vorzivilisatorische, archaisch auf Lustbefriedigung (zu der auch Wiederherstellung der verlorenen Ehre gehört) angelegte Ich hinter der Tieflandattitüde wie im Archetypus des Jägers als vorhanden und bestimmend zeichnet. Die Macht der Gruppendynamik und Xenophobie als Grundmuster, für die der Chor und die drei entzückenden Dorfmädchen Pepa, Antonia und Rosalia stehen, weisen auf Plautus, dem die Urheberrechte des Wolfszitats zukommen. Das Fremde provoziert zu Ausmerzung und Vernichtungsphantasien.

Das Bühnenbild wie die Kostüme aus der Hand von Daniel Dvořák. Die Hochgebirgslandschaft zu Beginn und am Ende bestehend aus schollenähnlichen, aufgetürmten Fragmenten, mit Schründen, Brüchen und Abgründigkeiten. Starke Lichteffekte geben der jeweiligen Situation ihr Recht. Dvořák verweigert sich einer monolithischen, heilen Welt, jeglicher Glättungen und platten Historismen. Seine Mühle korreliert mit dem Hochland, das über das getäfelte Glasdach nicht statisch als Gegenentwurf zeitlos erhaben einleuchtet, vielmehr dräuen immer wieder dunkle Wolken ins eherne Blau als Omen des Unheils. Die Kammer aufgeteilt, unten der Warteraum auf den Erlöser und das wahre Leben, oben, nur über die Leiter zugängig, eine zweite Kammer, Aufstieg- und Abstiegsmetapher, Ort für Gebet, Begierde und Errettung. Die beiden Gesindetruhen unten Symbole für den letzten Ausweg, den Aufbruch derer, die im Fortgehen nur gewinnen können, wie statische Zeichen für den Tod, weil mit Assoziationen zum Sarg. Ein Tor mit eingelassener Tür gewährt Intimität und Öffentlichkeit, um ihre gegenseitige Durchwirkung gleichermaßen aufzuweisen. Die Kleidung meist heutig, Pedro in Jeans und Lederjabot, die Hochzeitsgesellschaft in bäurischem Pyrenäen-Schwarz, wie die Mantilla der Braut. Die Feinabstimmung mit der Regie ist überall sichtbar.

Das Orchester unter Leitung von Andreas Hotz bringt mit Emphase, Verve und Präzision die facettenreiche Musil von Eugen d' Albert zu Gehör, deren kosmopolitische Breite dem Wesen des Komponisten entspricht. Man spürt die Begeisterung des Pfalztheater-Orchesters, diese Grenzmusik zwischen Oper, Filmmusik und Präfiguration des Musicals aufzuführen.

Es ist der Abend des Steffen Schantz, ohne die Leistung seiner Kolleginnen und Kollegen schmälern zu wollen. In den Piani schwebend, einfühlsam, zart und lyrisch, anrührend und betörend, im Mezzoforte jubelnd, pointiert, voller Strahlkraft. Der tumbe Tor, Held und Antiheld in einem, Steffen Schantz verdichtet die Rolle des Hirten Pedro (Archetyp Jäger) stimmlich, schauspielerisch und psychologisch zu einem grandiosen Kunstwerk. Bernd Valentin in herrschaftlicher Reiterkluft und mit der schlagbereiten dezenten Gerte stets zur Hand, verkörpert beeindruckend den Gewaltmenschen Sebastiano in aller Differenziertheit, er zeichnet einen tendenziellen Päderasten, der die eigenen Reifedefizite und die sublime Ichschwäche kompensiert durch Ausbeutung einer Notsituation und die bedingte Abwehrbereitschaft eines jungen Mädchen. Verschlagenheit und kriminelle Energie, seine Hörigkeit und die typische Ausblendung der wahren Lage, alles wird sichtbar und hörbar, der Koitus auf dem Esstisch so dezent und vage angedeutet, wie es einer gelungenen Personenführung entspricht, seine markante Baritonstimme dringt in Tiefenschichten des Hörers vor. Susanne Schimmack in der Rolle der Marta besticht durch anrührendes, glaubhaftes Spiel und eine wunderbar gefärbte Mezzosopranstimme. Die Sängerin erliegt nicht der Versuchung zu Rührseligkeit und falscher Sentimentalität, und rührt gerade so zu Tränen. Arlette Meißner gelingt es, die Kindliche voller Anmut, Verspieltheit, Neugierde und Unschuld, als Gegenentwurf zum Kindheits-Ich der Marta zu spielen und singen. Die Entwicklung ihrer Stimme ist unüberhörbar, in Weite und Dichte. Daniel Böhm als eifersüchtiger Mühlknecht Morruccio stellt die Attitüde der Empörung und des Verrats unter gutem Vorwand authentisch zur Schau, seine einschmeichelnde Baritonstimme verzaubert einmal mehr das Publikum. Gewohnt souverän, ausgestattet mit einer kultivierten Stimme Hans-Jörg Bock in der Rolle des Hirten. Alexis Wagner in der Rolle des greisen Tommaso nimmt seine markante Stimme bewusst ein wenig zurück, um dadurch statt eines zornigen Alten den in der Geschichte angelegten überrumpelten und empörten Handlanger wider Willen und Wissen zu gestalten. In den weiteren Rollen Elena Laborenz (Pepa), Elena Gerasimova (Antonia) und Dominique Engler (Rosalia) als entzückende Dorfschönheiten. Wohl dem (Pfalztheater-)Chor, der solche Solistinnen abstellen kann! Bernhard Schreurs mimt den Pfarrer, Dirk Dannowski spielt gekonnt die Soloklarinette.

Das Publikum: An einem Freitag nahezu ausverkauftes Haus. Alle sehr angetan, in der Pause voller Lob, angerührt von der Geschichte. Viel Beifall auch am Ende. Ob es die Betroffenheit war, die (verdiente) Bravi und Standing Ovations als unangemessen erscheinen hätten lassen? Nehmen wir es einfach mal an!

Frank Herkommer

 







Fotos: Pfalztheater Kaiserslautern