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Fakten zur Aufführung 

DER ONKEL AUS BOSTON
(Felix Mendelssohn-Bartholdy)
14. April 2007
(Szenische Uraufführung)

Pfalztheater Kaiserslautern

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Ein zweiter Plot

Wenn Peter Sloterdijk kategorisch den Imperativ der Istzeit postuliert, nämlich den Wettlauf mit seinen entropischen Prozessen, vor allem der Umweltzerstörung und der Demoralisierung, nicht verloren zu geben, dann gelang Sven Severin dazu in Kaiserslautern ein brillantes, heiter-tiefgründiges Anschauungsmeisterstück. Was tun, wenn Musik und Plot einer vor über 180 Jahren gestellten kompositorischen Hausaufgabe für einen Vierzehnjährigen nicht gleichermaßen wert sind, vor dem Absinken ins Vergessen bewahrt zu werden? Weil der Plot nicht hält, was die früh reife, bezaubernde Musik verspricht?

In Essen wagte die Philharmonie 2004 eine viel beachtete, erste konzertante Aufführung. Ein möglicher Bergungsansatz. Jetzt folgte am ambitionierten Pfalztheater der Reitmeier-Ära im pfälzischen Kaiserslautern das Wagnis einer szenischen Uraufführung. Statt des mancherseits befürchteten kaum lebensfähigen Frühchens erlebten die Zuschauer die Geburt von strotzgesunden Zwillingen: die abstrichlos genießenswerte Musik Mendelssohn-Bartholdys und dazu ein zweiter eingebauter Plot aus der Feder Sven Severins. Der Ursprungsplot reduziert sich mit zunehmender Spieldauer auf ein Epitheton ornans. Und das ist gut so!

Der Wahlrömer, diese Inkarnation von schriftstellerischer und musikalischer Doppelbegabung, implantiert dem harmlosen Kommödchen keine zeit- oder sachfremden Zusätze, er überspringt den garstigen Graben von knapp zwei Jahrhunderten, indem er die Aufführung der Komischen Oper einbettet in die Geschichte einer bedrückend zeitnahen Kreuzfahrt in den möglichen Untergang. Seine Brechtischen Verfremdungen irritieren weniger. Statt gesellschaftspolitischer Desillusion inszenatorische Spannung. Die Gäste auf dieser "Titanic" chargieren zwischen Fin de Siècle und Jetztzeit. Jeder aktuelle Bezug entgeht so auf kluge Weise der Peinlichkeit, dem Odium des künstlich Gewollten. Das weite Zeitfenster verhindert plumpe Aktualität, diese schnell welkende Schnittblume in den Gefäßen der Dramaturgie.

Der Zuschauer verliert, gottlob, im dritten Akt fast gänzlich das Interesse an der rührend naiven Herz-Schmerz-Ursprungsklamotte und wird unwiderstehlich hineingezogen in die zweite Handlung. Und die hat es in sich. Die Zuarbeit und Mitarbeit des Bühnenbildners Martin Reszler überzeugt dabei im Sinne des Duo kongeniale. Eine im Absinken befindliche Gesellschaft, die auf ihre Mahner nicht hören mag. Billige Schiebekulissen für die erste, Mendelssohnsche Handlungsebene, den Verlust gesellschaftlicher Beachtung von Kultur anzeigend. Tadzio liegt auf dem Sonnendeck, sichtlich unberührt von beiden Ebenen, und schlürft adoleszent lasziv seinen Champus. Bis zur bitteren Neige.

Graffiti Schmierereien, natürlich an den Schiffswänden, gemahnen an Sloterdijks zu widerstehenden Demoralisierungen, wenn Weltverschandelungen Gewohnheitsrechte eingeräumt bekommen und philosophisch dreiste Überhöhungen. Die stumme Kassandra als Butler Red Nose (charmant chaplinesk von Charlotte Bell gespielt) wandert verstört zwischen beiden Theaterwelten.

Und die Katastrophe, der einsetzende Untergang, bezeichnender Weise nicht ausgelöst durch eine Havarie, sondern durch einen Seesturm. Die Klimaveränderung, Menetekel an der Theaterwand. Das Indianer-Ballett (umstrukturiert und neu orientiert seit 2007 durch den Euphorie
verbreitenden Stefano Giannetti, Abendchoreographie Jean- Marc Lebon, Berlin) tanzt um den Marterpfahl, gebildet aus einer Etagere voll süßer Verlockungen, Hedonismus als Anästhetikum unserer Tage. Ein Feuerwerk brillianter Einfälle.

Kostüme von Claudia Gonzàles. Eine Augenweide und mit Pfiff. Beispiel: Der Onkel aus Amerika wechselt aktweise die Kopfbedeckung: deutsche Abstammung oder captatio benevolentiae des Heimkehrenden = wilhelminisch-militaristische Pickelhaube. Dann indianischer Federschmuck, diese falsche Folklore, feindliche Übernahme schamanischer Symbole, auf Völkermord und Barbarei fußend. Der Ami endet wieder bei der Pickelhaube. Der Irak lässt grüßen! Und dazwischen Kostüme aus der französischen Revolution, bis zum trikolorefarbenen Freiheitsbaum. Aufklärung als antidotisches Angebot.

Das Orchester: meisterhaft geleitet und spielend, einfühlsam, klar. Im Dirigat verschmelzen Gesang und Instrumente zur Symbiose. Aufbrechende Erotik liegt in der Luft. Großes Dirigat von GMD Uwe Sandner.

Die Stimmen überzeugen ausnahmslos. Eine große Karriere ist Caroline Melzer (Fanny) zu prognostizieren, über die Fortuna ein ganzes Füllhorn mit Begabungen ausgeschüttet hat. Nächste Saison im Ensemble der Komischen Oper in Berlin. Souverän. Tenor Steffen Schanz (Carl von Burg) entwickelt seine außergewöhnlich schöne Stimme kontinuierlich weiter. Deutschland hat wenige Tenöre, die wie er nicht nur vorzüglich singen können, sondern dabei auch noch gut aussehen.

Daniel Böhm (Tauber), trotz sturzbedingter atemraubender Rückenverletzung erzkomödiantische Spielkunst, seine herrliche Baritonstimme überzeugte ein Mal mehr. Wie von Opernnetz prognostiziert: Mario Podrecnik war in Kaiserslautern nicht zu halten. Nächste Saison am Gärtnerplatz in München. Wer den Buffo hier als lyrischen Tenor in der Rolle Theodors gehört hat, weiß warum.

Arlette Meißner (Lisette): zauberhafte Leichtigkeit im Gesang und verschmitztes Komödiantentum im Spiel. Wie sie auch ernst überzeugen kann, stellte sie als Sophie Scholl in dieser Spielzeit eindrucksvoll unter Beweis. Tadellos Peter Kovacs als von Burg senior, ebenso ansprechend die Leistung von Alexis Wagner als Baron von Felsig oder nassforscher, letztlich nichts verstehender Onkel aus Amerika.

Schlussszene: die Bühne dieser Welt geflutet. Erste apokalyptische Zeichen im Meereswasser, Blut, aber erst der Anfang. Rettung ist möglich - Die Kunst im Boot auf dem Weltmeer. In der Welt, nicht von der untergangsgeweihten Welt. Das Schibboleth der Rettung, ihr Erlösungswort ist Kultur, große Musik wie die von Mendelssohn-Bartholdy.

Publikum: Anhaltender, warmer, freundlich gesonnener Applaus. Im Foyer macht das Wort "goldig" seine Geisterrunde. Hinfahren, ansehen! Kaiserslautern ist einmal mehr eine Reise wert!

Frank Herkommer