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Fakten zur Aufführung 

GESTOHLENES LEBEN
(Helmut Bieler)
7. Mai 2010 (Uraufführung)

Pfalztheater Kaiserslautern


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Aufschrei und Flüstern

Ästhetik nach Auschwitz, dem Unsäglichen der europäischen Judenauslöschung angemessenen Ausdruck verleihen, mit Adorno die Barbarei, nach der Shoa Gedichte (und Opern) zu schreiben der nihilistischen Alternative des künstlerischen Verstummens vorzuziehen, damit dem obersten Postulat des Philosophen für jede Erziehung nach dem Holocaust nachkommend, dass Auschwitz nie mehr sei - dieser Aufgabe stellt sich das Pfalztheater mit seiner Auftragsoper Gestohlenes Leben (das tertium comparationis des gleichnamigen Romans von Wolfgang Leonhard besteht in der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus), 70 Jahre nach der kulturellen und großteils physischen Auslöschung jüdischen Lebens in der Pfalz. Susanne Bieler, Dramaturgin am Haus, Librettistin und Tochter des beauftragten Komponisten Helmut Bieler, nähert sich dem Inkommensurablen über die Geschichte der Deportation der badischen und pfälzischen Juden ins französische Camp de Gurs, überführt beeindruckend und bedrückend die räumliche Kategorie in eine existentielle, Gurs wird zum Schibboleth des Grauens, das Lager erbarmungslos verwaltet von den willfährigen Helfern des Vichy-Regimes.

Die Erzählstruktur bedient sich konzentrischer Kreise, vom Kaiserslauterer Einzelschicksal der begabten, im Lager entkräftet gestorbenen Sängerin Greta Lilienberg über deren Familiengeschichte, von den tausenden Opfern der konzertierten, Rhein überschreitenden Gauleiter-Aktion im Oktober 1940 über die Weiterleitung in die polnischen Vernichtungslager, der Horizont industriellen Massenmords, bis hin zum Identitätsraub durch Heimatverlust derer, die nur scheinbar davon gekommen sind. Das gestohlene Leben wird in seiner Vielschichtigkeit emotional nachvollziehbar. Der Lokal- und Regionalbezug trivialisiert nicht, die Nähe zur Familiengeschichte des Publikums verstellt nicht den Überblick, sie konkretisiert und lässt die abstrakten Zahlen aus ihrer verwalteten Nacktheit heraus treten und zur bedrückenden Betroffenheit werden, die jedes bloße Faktenlesen übersteigt. Tua fabula narratur.

Susanne Bieler verknüpft das Schicksal der Grete Lilienberg mit der Vita ihres Freundes Leopold Stein in und aus Kaiserslautern, selbst erfolgreicher Sänger, die Schuldfrage wird konkret, Mutlosigkeit das deutsche Stigma jener Jahre. Wie wenige zum Helden geboren sind, die Antwort wird der zeitübergreifenden Selbstüberprüfung des Theaterbesuchers überlassen. Immer noch nicht seit 1962, die fiktive Spielzeit der Oper, verstummt: die Argumente der Abwehr und Verdrängung, wenn Johanna Stein von Juden und Nazis nichts mehr hören möchte, obwohl sie noch nie hingehört hat. Psychologisch fein austariert die Eifersucht Johannas auf eine Tote, in der Begriffstradition eines Marcel Proust und seiner Recherche. Die eigene Liebe gewissermaßen aus zweiter Hand, eine subtile Parabel für das Existenzrecht der Deutschen mit der Schuld. „Die Stimme“, eine Sprechrolle (Adorno!), die Informantin und anklagendes Gewissen vereint. Intermittierend, interpretierend, angemessen minimalistisch die ursprünglich Rolle des antiken Chores als ursprüngliche Instanz des Göttlichen einnehmend.

Zu den leisen Tönen, jenseits allen Betroffenheitskitsches, auf Schwarzweißcharakteristiken verzichtend, passt die einfühlsame Komposition von Helmut Bieler. Stimmungen, die gerade in ihrer Unaufdringlichkeit den Hörer stellen, die das Leiden und die Schuld anklingen lassen, Musik, die weder vereinnahmen noch belehren möchte, die Gefühlen Mut macht und sie nicht erzwingt, eine Komposition, die hörbar die gesprochene „Stimme“ ihrer jeweiligen Funktion zuordnen lässt, in Mahlerscher und Humperdinckscher Manier bekannte Melodien aufnimmt und weiterführt. Helmut Bieler schreibt demütige Musik, das Flüstern der geschändeten Opfer und der ausklingenden Leben wird imaginierbar und es gelingt, das (vorgetragene) Vermächtnis eines Überlebenden zu erfüllen: den „Aufschrei“ weiter hörbar werden zu lassen, wenn er und seine Generation nicht mehr da sein werden. Ein kurzes, aber wunderbar dichtes Werk. Präzise und einfühlsam umgesetzt vom kleinen Ensemble aus Streichern, Bläsern und Schlagzeug unter dem konsistenten Dirigat des vorzüglichen Andreas Hotz.

Die Regie in Händen des Intendanten am Theater Hof, Uwe Drechsel, mit vorzüglicher Personenführung; eine Kammeroper erhält klassisch-griechische Strukturen, Standpunkte werden eingenommen, ohne einen statischen Eindruck zu machen. Wenn die „Stimme“ einschreitet, Ausflüchte versperrt. Körperliche Nähe als Surrogat der verweigerten Konfliktlösung, um dann wieder letzte Einsamkeit der sich Nichtverstehenden räumlich darzustellen. Die Dezenz der Inszenierung (unterstützt von Dramaturg Andreas Bronkalla) korreliert mit der Unaufdringlichkeit des Werkes.

Das Bühnenbild und die Kostüme aus der Hand von Thomas Mogendorf. Ein abfallendes Dreieck als Wohnzimmerfläche der Steins, das den Winkeln der Verächtlichkeit zwischen Rot und Rosa, Gelb, Lila und Schwarz das deutscher Verdrängung holzfarben bei gibt. Der Toscaseifenteppich, unter den redensartlich gekehrt wird, das Produkt wäscht die Saubermänner rein ohne jemals wieder die unterschwellige Assoziation an die an Zynismus nicht zu überbietende Knochenverwertung unterbinden zu können. Alle weiteren Insignien der Wirtschaftswunderwelt vom Nierentisch bis zur Radiotruhe, Bertelsmann-Mini-Bibliothek und Ohrensessel.

Susanne Bieler schreibt die Rollen den Protagonisten (alle vom Pfalztheater) auf den Leib. Geertje Nissen, die ideale „Stimme“, die eigene Sprechstimme kultiviert und gebildet, eindringlich, dabei gewollt unaufdringlich. Die Körpersprache zwischen Unerbittlichkeit der Erynie und warmer Parteilichkeit für die Opfer. Daniel Böhm als Leopold Stein, verzweifelt, schuldig, unter dem Verhängnis sichtlich leidend. Einmal mehr zeigt der Baritonsänger seine Bestimmung für große Charakterrollen. In die Arlette Meißner beeindruckend hinein gewachsen ist. Als Johanna Stein einmal mehr schauspielerisch überragend, ernst und widersetzlich, die gereifte Stimme aufs Höchste konzentriert. Steffen Schanz in der Rolle des Jakob Lilienberg wütend und gekränkt, traumatisiert und anklagend. Wie gewohnt, stimmlich eine Offenbarung. Adelheid Fink gibt der Toten ihre Stimme und jeder ahnt, was der Nachwelt verloren ging.

Das Publikum mit Respekt vor dem Topos. Fast ausnahmslos dunkel gekleidet, hochsensibel und empfänglich, rührbar und sichtlich angesprochen. Zehn Minuten Applaus für einen Abend, an dem sich Künstler und Publikum so nahe kamen wie selten.
Extra-Wertung:

Komposition:
Libretto:

Frank Herkommer

 

 







Fotos: Pfalztheater Kaiserslautern