Nachdenken über Selbstfindung
Es ist schon eindrucksvoll,wie Gottfrid Pilz die Werther-Tragödie nachdenklich auf die gescheiterte Selbstfindung Charlottes focussiert. Zu sehen ist die Psyche der Personen, nicht der sentimentale Diskurs oder die gesellschaftliche Aktion. Eine schwarze Wand mit drei hohen Fensteröffnungen für Blicke nach außen schafft den Raum für ein Kammerspiel intensivster Gefühle. Fern aller plakativen Effekte wird der Prozess des seelischen Tods hocheindringlich nachvollziehbar.
Die Heidelberger Solisten nahmen das reflektierte Konzept ernst, agieren mit außerordentlich hoher Sensibilität - und singen die französischen Partien mit bemerkenswerter Qualität und Bühnenpräsenz. Yamina Maamar singt mit emotional-gefärbtem Sopran eine Charlotte voller Ambivalent und bedrängender Trauer stimmsicher in dramatischen Ausbrüchen und dunklen Tiefen. Adran Cave gibt dem liebend fordernden, verzichtenden Werther Züge des erleidenden Liebestods - kernig in der Stimme, sicher in den gewagten Höhen, aber auch mit gekonnter Brüchigkeit. Michaela Maria Mayer demonstriert mit brillant-flexibler Stimme, was in der Rolle der Sophie steckt, nämlich viel mehr als das unreflektierte Kleinchen. Ansonsten: Großes Lob für das Heidelberger Ensemble.
Das Philharmonische Orchester der Stadt Heidelberg wird vom aufmerksamen Cornelius Meister zu differenziertem Spiel der Orchestergruppen mit Präsentation der Einzel-Instrumente geführt, hat allerdings mit der trockenen Akustik des intimen Hauses Probleme bei tutti-fortissime.
Das Publikum: fantastisch aufgeschlossen, gespannt folgend, begeistert applaudierend am Schluss. Und der einzige aktuelle Gag der Inszenierung - die Kinder in der Eröffnungsszene treten mit Fußball in Trikots auf - findet am Ende überraschende Entsprechung: vor den Fernsehern auf der Heidelberger Hauptstraße fällt das erste Tor im "kleinen Finale" der WM 2006. Das lustvolle Leben hat uns wieder. (frs)
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