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Fakten zur Aufführung 

INTOLLERANZA 1960
(Luigi Nono)
9. September 2010 (Premiere)

Staatsoper Hannover


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Es geht uns alle an!

Politische Ungerechtigkeiten, die jeden einzelnen angehen und damit unweigerlich zum Teil eines Kollektivs machen, das sich gegen die herrschenden Zustände auflehnen muss, haben Luigi Nono um das Jahr 1960 angetrieben, sein erstes Werk für Musiktheater zu schreiben. Das Libretto ist eine Montage aus Texten u. a. von Bertolt Brecht, Wladimir Majakowski, Jean-Paul Sarte, Angelo Maria Ripellino sowie verschiedener antifaschistischer Parolen. Intolleranza 1960 wurde 1961 bei der Biennale in Venedig uraufgeführt und blickt bis heute auf eine zwar nicht eben üppige, gleichwohl aber stetige Rezeptions- und Aufführungsgeschichte zurück. So sehr Nono das Stück aus dem politischen Zeitgeist heraus konzipiert hat, so sehr hat die Art, wie er den Umgang des gesellschaftlichen Kollektivs mit Unterdrückung, Folter, Willkür etc. darin gestaltet und fordert, bleibende Gültigkeit. Das demonstriert die Staatsoper Hannover mit ihrer Neuproduktion äußerst eindrucksvoll.

Die recht lose Szenenfolge verbindet Nono durch die Figur des Emigrante, der sinnbildlich für das Außenstehen und die damit verbundene Ohnmacht und Lähmung erscheint. Ob zu Beginn in einem Bergarbeiterdorf nach verheerendem Grubenunglück, als Beobachter großer Volksdemonstrationen, in einem algerischen Konzentrationslager, in Hiroshima nach der Atombombenexplosion – er steht für die Suche des einzelnen nach einem Leben in Freiheit, ohne politische Intoleranz. Auf seinem Weg begegnen ihm eine Frau, mit der er gelebt hat, und seine neue Gefährtin, die sein Verhalten spiegeln und ihn mit der Vergangenheit und den Möglichkeiten der Zukunft konfrontieren. Matthias Schulz als Emigrante, Khatuna Mikaberidze als Frau und Karen Frankenstein als Gefährtin geben beeindruckende stimmliche Porträts und bewältigen die extremen Anforderungen ihrer Partien virtuos.

Der eigentliche Protagonist des Stücks aber ist der Chor, die kollektive Masse eben. Hannovers Staatsopernchor unter der Leitung von Dan Ratiu lässt seine Qualitäten unter dem Eindruck der extremen Anforderungen, die Nono hier stellt, mit einer Souveränität erklingen, die singulär ist. Das weiß vor allem Regisseur Benedikt von Peter zu nutzen, der dem einen noch personenstärkeren weiteren Protagonisten an die Seite stellt – das Publikum. Nur die das Stück umrahmenden Chorgesänge hören die Zuschauer aus den Reihen des Parketts, danach geht es auf die Bühne und der heruntergelassene eiserne Vorhang drängt alle und alles auf engstem Raum zusammen. Chor, Statisten, Solisten und Publikum sitzen neben- und durcheinander, inmitten der szenischen Aktion, werden zu einer großen Masse. Die Bühne ist fast ganz dunkel, es gibt kaum Kulissen, ein paar Leitern, ein paar Taschenlampen und viele graue Menschen. Das große Verdienst des Regisseurs von Peter ist es, für das Publikum scheinbar vergessen zu machen, dass es bloß Zuschauer ist. Hier bricht jede Grenze auf. Und wahrscheinlich funktioniert Nonos Appell an die Masse der Menschen, sich politisch zu engagieren, so am eindringlichsten.

Dass das Konzept, alle im Raum zum Teil der Aufführung werden zu lassen, so nachdrücklich aufgeht, liegt auch an Stefan Klingele und dem Staatsorchester. Die sitzen und spielen unter der Bühne, setzen Nonos gewaltige Partitur mit großer Sicherheit und Transparenz in Klänge um, die einerseits wie aus der Ferne zu kommen scheinen, andererseits – vielleicht gerade dadurch? – ebenso selbstverständlicher Teil des klanglichen und szenischen Raumes werden. Da scheint auch Nonos musikalische Sprache ganz aus dem Geist des musikalischen Dramas entwickelt, die 1960 noch allzu „neu“ wahrgenommenen Klänge sind auf einmal ganz natürlich und organisch.

Das Premierenpublikum trägt diese ebenso ungewöhnliche wie bezwingende Aufführung mit großer Anteilnahme und Aufmerksamkeit mit. Am Ende gibt es einhelligen, begeisterten Beifall für alle Beteiligten. Und obwohl das Konzept wesentlich weniger Zuschauer zulässt, als sonst im Haus Platz haben – nur 250 Karten werden pro Vorstellung angeboten – so bleibt doch nur zu wünschen, dass möglichst viele Menschen, die eine Affinität zu unbequemem und unmittelbarem Musiktheater haben, die Aufführung sehen mögen.

Christian Schütte

 









Fotos: © Thomas M. Jauk