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Fakten zur Aufführung 

DER KAISER VON ATLANTIS
(Viktor Ullmann)
17. Januar 2010 (Premiere)

Ballhof Hannover
Staatsoper Hannover


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Komm, Tod

Viktor Ullmann: Schönberg- und Zemlinsky-Schüler, Verehrer Bergs, Akzente setzender Komponist in den 20er und 30er Jahren, nach Theresienstadt deportiert, dort u. a. mit Hans Krása (Brundibar) unter menschenverachtenden Bedingungen musikalisch arbeitend; 1944 Der Kaiser von Atlantis, die Oper über die Verweigerung des Todes: zu Zeiten brutaler Kämpfe dankt der Tod ab - das grenzenlose Leid der Menschen findet kein Ende; schließlich akzeptiert der Kaiser, als erster wieder zu sterben – Schlusschoral „Komm, Tod, du unser werter Gast“.

Stefan Otteni versteht dieses wahrhaft erschütternde Werk als Parabel menschlicher Endlichkeit, nimmt es als Dokument äußerster existenzieller Verzweiflung – stellt nicht den konkreten tödlichen Zynismus der Nazi-Verbrecher auf die Bühne. Und diese Herangehensweise geschieht in großem Respekt vor der hoch differenzierten Ästhetik des erregenden Werks (aisthesis = Hinterfragen). Prototypen individueller Kommunikation agieren in gefesselter Isolation, stereotyp gebannt in frappierend wechselnden Aktions-Elementen, die eher expressionistischen Strukturen entspricht als traditioneller Narration.

Anne Neuser realisiert eine Szene mit Tauen und Trapezen, an denen die Protagonisten schweben und hängen, auf dem der Kaiser über allem schwebt, auf dem der Tod triumphiert – über einer mit Kartoffeln begrenzten Grundfläche: die Kartoffeln als Metapher elementarer Überlebens-Basis.

Musikalisch werden die Ullmann-Ideen aus dem Zeitgeist der aktuellen Ideen deutlich: Berg/Schönbergsche Atonalität, Song-Verweise auf Weill, aber auch auf Korngolds Spätromantik, und Zitate früher Musik – Toshiaki Murakami leitet intensiv die solistisch brillanten Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters zu einer emotional bewegenden Interpretation der fragmentarisch-andeutenden Ullmann-Musik: Eine kongeniale Umsetzung des verstörenden Umgangs mit den irritierenden Elementen deutender musikalischer Kommunikation.

Das sich selbst entäußernde Ensemble überzeugt nicht nur bravourös durch nahezu akrobatisches Agieren – verleiht vielmehr den parabelhaften Figuren existenziell bedeutsame stimmliche Repräsentanz: Jin-Ho Yoo gibt dem Kaiser sowohl autoritäre Dominanz als auch bewegend-humane Klänge. Frank Schneiders’ ambivalent abdankender Tod überzeugt durch voluminös-variable Stimme; Bryan Boyce interpretiert den Lautsprecher mit differenzierender stimmlicher Modulations-Potenz; Jörn Eichler verleiht dem Soldaten ungemein ergreifenden stimmlichen Ausdruck; Hinako Yoshikawa ist nicht nur ein darstellerisch quirliger Bubikopf, verleiht der Figur vielmehr außerordentlich variantenreiche Stimme; so wie Mareike Morr dem Trommler intensiven stimmlichen Charakter vermittelt und Ivan Tursic die gesangliche Profilierung des Harlekins überzeugend singt!

Nicht zu vergessen im Hintergrund des verstörenden Geschehens: die Statisten in permanenten handgreiflichen Kämpfen!

Das motivierte Publikum auf den engen Sitzen der Tribüne des Ballhofs verfolgt die siebzig Minuten eines charismatischen Totentanzes mit gebannter Spannung, fühlt sich offenkundig im Suchen nach „Sinn“ erreicht - und spendet erleichternden Applaus, feiert alle Protagonisten mit großer Zustimmung. Störend: Ein Nebenan, das partout die magischen Elemente des Geschehens zum Zücken seines Kugelschreibers nutzt; kann diese Unsitte denn niemals enden?

Franz R. Stuke

 





Fotos: © Christian Brachwitz