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Fakten zur Aufführung 

CHOWANSCHTSCHINA
(Modest Mussorgskij)
7. April 2010
(Premiere: 8. Mai 1994)

Hamburgische Staatsoper


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Der Volks(ver-)führer

Religiöse und politische Konflikte aus dem Russland des 17. Jahrhunderts, nicht immer glücklich vermengt in einer nicht vollendeten Oper, der außerdem eine der wichtigsten Zutaten fehlt: Eine Liebesgeschichte. Das verspricht nicht gerade ein Exportschlager zu werden. Und dennoch ist Mussorgskijs Chowanschtschina absolut sehenswert: düster und bedrückend ist die Stimmung in der Hamburgischen Staatsoper. Weder Mussorgskij noch Altmeister Harry Kupfer, dessen Inszenierung bereits aus dem Jahr 1994 stammt, konnten ahnen, wie sehr religiöser Fanatismus den Beginn des 21. Jahrhunderts prägen werden und wie aktuell die Inszenierung deshalb auch heute noch wirkt. Altgläubige gegen reformierte Kirche, Adel gegen das Volk, Palastwache gegen die Armee, eine Verschwörung gegen den Zaren. Die Vielzahl an sich überschneidenden Gruppen, die hier gegeneinander kämpfen, macht es für den Zuschauer nicht leicht, den Überblick zu behalten. Doch ist es gerade das Fehlen eines echten Sympathieträgers, was diese Oper so realistisch und zeitlos macht. Nahezu jeder der Protagonisten kämpft in seinem Sinn für die Zukunft Russlands, gibt sich gern volksnah und gutmütig, ist aber unter dem Deckmäntelchen der Religion vor allem am persönlichen Machterhalt interessiert.

Eine teils zerbombte Häuserfassade (Bühnenbild: Hans Schavernoch) verkürzt die Raumtiefe auf wenige Meter. Auf dieser Vorderbühne und direkt hinter den Fenstern der Fassade spielt sich das Meiste ab. Ortswechsel werden vor allem durch Panoramabilder im Hintergrund angedeutet. Durch die so stark verkleinerte Bühne wirken die Massenszenen des ohnehin groß besetzten Chores noch gewaltiger, sicher ganz im Sinn des Komponisten.

Ob die zahlreichen Kürzungen, die der Regisseur vorgenommen hat und die rund 30 Minuten der Spielzeit ausmachen, ebenfalls im Sinn des Komponisten waren, sei dahingestellt. Gewiss, Mussorgskijs Libretto ist nicht ausgewogen, doch manchmal erscheint die Schere zu großzügig angesetzt. So fehlt mit dem gesamten zweiten Auftritt des Schreibers (ansonsten bestens präsent: Ziad Nehme) eine der großen Chorszenen. Ebenfalls gestrichen ist die Auseinandersetzung zwischen Marfa (herausragend: Elena Zaremba) und Susanna, die der Führer der Altgläubigen Dossifej (Tigran Martirossian als Fels in der Brandung) überaus autoritär beendet, was seinen Charakter in einem anderen Licht erscheinen lässt. Am Schluss führt er die Seinen – sektenartig in weiße Gewänder gehüllt – in den Massenselbstmord durch Verbrennung. Diese Szene, in der die Häuserfassade allmählich in den Bühnenboden sinkt, ist eine der stärksten des Abends und tröstet über die vielen Striche hinweg.

Matti Salminen gibt einen stimmgewaltigen Fürsten Iwan, der sich als Volks(ver-)führer gefällt und sich wie Stalin von einem kleinen Mädchen Blumen bringen lässt oder wie Hitler vor dem Untergang Ablenkung in fröhlicher Unterhaltung sucht. Die dafür bereit stehenden spärlich bekleideten und daher von den umstehenden Männern umso begieriger begafften Tänzerinnen setzen neben den Soldatenfrauen die einzigen Farbakzente in den ansonsten treffend in trüben Tönen gehaltenen Uniformen (Kostüme: Reinhard Heinrich). Gleichwertig zum dunklen Bass Salminens agiert in einer der besten Nebenrollen Lauri Vasar als Schaklowityi, der die Verschwörung aufdeckt und kurz vor Schluss seelenruhig zusieht, wie Fürst Iwan ermordet wird. Nicht ganz so überzeugend wirken dagegen Viktor Lutsiuk als Fürst Andrej und Peter Galliard als Fürst Golizyn. Bei den wenigen Frauenrollen ragt Elena Zaremba als Marfa heraus, die sich trotz tiefer Lage hervorragend durchzusetzen weiß. Die von Andrej begehrte, ihn aber zu Recht zurückweisende Emma (Katerina Tretyakova) steht etwas dahinter, hat aber auch deutlich weniger Möglichkeiten, sich zu profilieren.

Simone Young entlockt den Philharmonikern Hamburg nicht nur genau die richtige Mischung mit spannungsgeladen, aber nie den Gesang verdeckenden Klängen. Sie hält damit gleichzeitig ein Plädoyer dafür, die von Mussorgskij nicht mehr instrumentierte Oper in der Fassung von Dmitri Schostakowitsch zu spielen.

Am Ende gibt es großen Applaus, nicht nur für das Ensemble, sondern auch für den überzeugend agierenden Chor.

Nicolas Furchert