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Fakten zur Aufführung 

ARME LEUTE
(Gleb Serafimovic Sedelnikow)
3. Dezember 2005 (Premiere)

Hamburgische Staatsoper/
Hochschule für Musik und Theater
(Opera Stabile)

Points of Honor                      

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Die junge Magd erzählt uns das Leben voller Wahnsinn und Tod

Am Thalia Theater kann man sich momentan recht gut anschauen, was passiert, wenn man ein Kleist-Drama und missglückte Musik wie Chanson oder Beastie-Boys zusammenbringt, wie in Stephan Kimmigs an Penthesilea gescheiterter Inszenierung oder noch etwas unsachter in der Kombination von Cervantesromanelementen und flachbildschirmgedrechselt Vivaformatigem wie in „Don Quixote in der Stadt“: Die Kunst nimmt reiß aus und lässt die armen Darsteller ungeküsst auf der Bühne zurück.

Wie nun aber die Kompilation von erst einmal unterschiedlichen Werken, ja Gattungen, glücken kann, substantiell Neues zu Tage fördern kann, zeigt sich nun im gemeinsamen Projekt von Staatsoper und Musikhochschule an der kleinen Opera stabile. Zwei Liederzyklen des frühen Paul Hindemith op.23 No.2 „Die junge Magd“ (Sechs Gedichte Trakls) und op.23 a „Des Todes Tod“ (Drei Gedichte Reinachers) werden da mit Gleb Sedelnikows einaktiger Kammeroper „Arme Leute“ (UA 1974) auf der Textgrundlage des ersten Briefromans Dostojewskijs auf intelligente und überaus sinnfällige Weise verwoben.

Nach einem (unnötigen) szenischen Vorspiel, das Einsichten in die psychopathologische Grundstruktur der Briefeschreiber freilegt, dem pikaresken Beamtenrussen im Neo-Peter Pan-Outfit Makar Alexejewitsch Dewuschkin und der auf die Ferne gerichteten, weißgekleideten Warwara Alexejewna Dobrosjolowna, kommt seitlich die junge Magd herein und erkennt sich in der zuvor noch ganz leblos, einfach daliegenden Frau. Beide sind in ihrer verwundeten Körperlichkeit Seelenverwandte, nahezu Doppelgängerinnen. Die junge Magd erzählt uns ihre Verletzungsgeschichte, „lebt“ fortan in einem anderen Raum, dem Mathias Engelmann eine abgehängte Plastikdurchsicht gelassen hat. Und sie sieht nun auch das szenisch abgewandelte Schicksal der Warwara, das nach Um- und Abstoßungen, Angriffen und Übergriffen, verzerrten Bedürfnislagen und tiefsten Verletzungen mit Makar im Mord an ihr endet. In zwei dramaturgisch geschickt gesetzten, reflexiven Intermezzi kommentiert die junge Magd mit „I. Das Gesicht von Tod und Elend“ und „II. Gottes Tod“, den sich verstärkenden Wahnsinnsgrad auf der Szene und behält auch die Schlussworte „III. Des Todes Tod“, mit denen sie den Tod Makars begleitet, den Tod als den letzten Gefährten aus- und verweist, und uns verlässt, wie gekommen. So wird das Kammerstück existentialisiert, und auch mehrdimensioniert.

Die Musik hätte man sich auch gerne mit den grundlegenden Fragen dieser Werke befasst gehört: sowohl Vortrag auf offener Bühne als auch Darbietung waren nun aber kaum mehr als dürftig, gingen über virtuose Versuche nicht hinaus, was einigermaßen bedauerlich für so manchen gelungenen Soloauftritt aus dem Ensemble war, wie die Flöte einer Kathrin Leithner. Das Klangbild der Musiker um Boris Brinkmann war dafür aber zu wenig koordiniert, beliebig, auch zum Teil wirklich mit geräuschhaftem Einschlag. Ganz anders Sänger und Sängerinnen: als junge Magd die muntere, differenzierte, ausbaufähige Mezzosopranistin Aviva Piniane, als Makar der zügig anspringende, edel-timbrierte, tragfähige, aber etwas zur Überspannung tendierende Bariton Jan Friedrich Eggers und als Warwara die exzellent-beängstigende Sopranistin Anke Briegel, die manche Phrase tiefster Einsicht hinterlässt und auch andere wie „Die Kindheit ist die Hoffnung auf Leben ohne Tod“ auf eine so hoffnungslos verstörte, besonders wahre Art zu singen vermag. Eine Regiearbeit, die sichtbar an der seelischen Präsenz der Darsteller gewirkt hat, viel an szenischer Spannung zu vermitteln weiß und überdies Fragen nach Wahnsinn und Tod nicht ausweicht. Sofern Christine Cyris Schwächen, wie die Schaufensterpuppe, die Makars Wunschprojektion nur scheinbar übersetzt, oder die fehlende innerszenische Kommunikation zwischen Magd und Warwara erkennt und ausarbeitet, sollte ihr Name unbedingt Aufnahme in die Intendantentelefonlisten finden. Die Bühne käme ganz ohne die Streuästhetik von Hamsterkäfigen aus.

Im Publikum erwartete man zumindest alle Deutschleistungskurse der Stadt, wobei man verblüfft sein wird, welches Textniveau in ein- und einer halben Stunde klar zu vermitteln sind (Auch dank der hervorragenden Übersetzung von Sigrid Neef), wenn man es, wie diese jungen Künstler, denn kann. (wh)