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Fakten zur Aufführung 

STREET SCENE
(Kurt Weill)
6. September 2009 (Premiere)

Theater Hagen


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Wie im echten Leben

Es ist heiß, sehr heiß an diesem Sommertag. Und keinen der Menschen hält es in den aufgeheizten Wohnungen, dort in einem jener Stadtteile New Yorks, wo nicht gerade die gut Betuchten leben. Man trifft sich draußen im Innenhof, stöhnt kollektiv über die Temperaturen. Dort sitzen sie: die Frauen all jener Familien, die sich in diesem Schmelztiegel zusammengefunden haben. Angloamerikaner wie Frau Jones, Greta, die Frau des italienischen Musiklehrers, und Olga, die etwas verspannte Mutter. Und nach und nach treten alle irgendwann einmal ein in die Szene: die Ehemänner, die Geschwister, die heimlichen oder offenen Lover.
Kurt Weills Street Scene von 1946 ist ein Multikulti-Stück, das Soziogramm eines Grüppchens, das man wohl mit dem Etikett „sozialer Brennpunkt“ versehen kann. Da wird gelästert und getuschelt, wahnsinnig viel getratscht - und geträumt von einer besseren Zukunft, wenn nicht von einer besseren Welt ohne Kapitalismus, für die Abraham Kaplan mit Nachdruck plädiert – und in Zeiten der globalen Finanzkrise erstaunlich aktuell wirkt. Immer aktuell, sprich: zeitlos ist selbstverständlich auch die Geschichte von junger Liebe sowie die von Eifersucht. Hier in Street Scene führt sie bis zum Mord. Das ist spektakulär und voller Dramatik, doch kurz nachdem sich die allseitige Erschütterung darüber gelegt hat, nimmt der Alltag seinen gewohnten Lauf: man stöhnt über die sommerliche Hitze. Zynismus? Gleichgültigkeit gegenüber dem gewaltsamen Tod eines Menschen? Irgendwie schon.
Für einige der Bewohner dieses Biotops wird sich indes Grundlegendes ändern. Vor allem für Anna Maurrant, denn sie ist tot. Sie war die Gattin von Frank, wurde von ihm erschossen, weil sie einen Liebhaber hatte. Dafür wandert Frank hinter Gitter. Rose ist seine Tochter, die gleich von drei Männern umschwärmt wird. Einen davon liebt sie wirklich, doch ihn, Sam Kaplan, Sohn des jüdischen Kapitalismuskritikers, verlässt sie nach all dem Katastrophischen, diesem Mord an ihrer Mutter Anna.
Weills Street Scene ist ein spannendes Stück – und selten auf der Bühne zu erleben. Womöglich, weil der Aufwand enorm ist. Das Theater Hagen hat diese Herausforderung angenommen und glänzend bestanden. Mehr als vierzig Rollen, kleine, mittlere und große sind zu besetzen. Dazu kommen Opernchor und Kinderchor. Eine wahnsinnige Leistung! Zumal das Haus seit Jahren permanenten finanziellen Aderlass über sich hat ergehen lassen müssen. Hier zeigt es wieder einmal mehr sein unglaubliches Potenzial, seine Kraft, seine Ausstrahlung, vor allem aber sein wunderbares Ensemble. Wo man hinsieht und hinhört gibt es Staunenswertes. Rolf A. Scheider schlüpft in die fiese Rolle des herrischen und eifersüchtigen Frank Maurrant, Dagmar Hesse ist seine sowohl beklagenswerte als auch beneidenswerte Gattin – beides große Partien wie auch die der Rose, der umworbenen Tochter, die Kristine Larissa Funkhauser stimmlich brillant und mit großer schauspielerischer Ausstrahlung umsetzt. Michael Suttner ist als etwas biederer, seinem geisteswissenschaftlichen Studium frönender Sam Kaplan ihr eigentlicher Schwarm. Diese vier Figuren stehen im Zentrum des Geschehens. Doch noch ganz viele andere mehr sind unabdingbar für Weills Milieustudie, darunter der Hausmeister Henry (überragend Frank Dolphin Wong), der auf familiären Nachwuchs wartende Daniel Buchanan (Jeffery Krueger transportiert dessen Nöte durch und durch glaubwürdig) und die ziemlich prollige Emma Jones (eine Paraderolle für Hagens immer wieder exquisite „Rampensau“ Marilyn Bennett). Nicht zu vergessen all die Teenies, allen voran Claudio Bischoping als Roses jüngerer Bruder Willie und Stefanie Werner und Fabienne Hahn als Sprösslinge der Hildebrands.
Roman Hovenbitzer führt Regie. Er beweist in Verbindung mit der perfekten Choreografie von Ricardo Viviani akribisch genauen Sensus für die Bewegung all der Menschen auf der Opernbühne (Bühnenbild: Roy Spahn), die nichts anderes ist als eine Wohnanlage in Form eines riesigen, rot leuchtenden Dollarzeichens: Oben der Ort der Katastrophe, die Maurrant-Wohnung, unten der vor Hitze glühende Beton der Straße, einzig „begrünt“ durch eine verdorrende Magnolie. Auf diesem engen Raum stellt Hovenbitzer seine Figuren perfekt und versinnbildlicht das nachbarschaftliche Beziehungsgeflecht. Auch der erotisch-fordernde Tanz des koksenden Paares fügt sich grandios ein (faszinierend: Marysol Ximénez-Carrillo und Alexander Soehnle). Und immer wieder entstehen große Ensembles. Wer aber meint, Weills Stück sei ein düster-schwüles Drama, der irrt. Es gibt viele komische Szenen, die immer wieder Spannung brechen, so etwa der köstliche Lobgesang auf amerikanische Supermärkte und ihr Eisangebot – herrlich illustriert durch ein Fast-Food-Video von Thorsten Alich und Andreas J. Etter.
Weill kann in Street Scene die Bandbreite seiner musikalischen Ausdrucksfähigkeit voll ausspielen. Die reicht von der eindrucksvollen Arie der Anna Maurrant, in der sie ihr trostloses Leben beklagt, über spritzige, leicht federnde Ensembles, Anleihen beim Jazz bis hin zu operettenhaften Liebesduetten, die manchmal der Grenze zum Kitsch sehr nahe kommen. Und große Chöre gehören dazu, ausgezeichnet einstudiert von Wolfgang Müller-Salow und Caroline Bosch.
Florian Ludwig und die Hagener Philharmoniker versenken sich mit hörbar viel Freude in Weills Partitur und bringen sie zum Funkeln, lassen dichte Atmosphäre entstehen bis zur knisternden Spannung. Das macht eindeutig klar, dass Weills Street Scene auch musikalisch aller Mühen Wert ist. Der Funke springt über, das Hagener Premierenpublikum nimmt die Produktion begeistert auf und stärkt mit viel Applaus für alle Beteiligten seinem Theater den Rücken. Berechtigter Lohn für den Mut, Weills viel zu selten zu sehendes Stück auf den Spielplan zu setzen!

Christoph Schulte im Walde

 












 
Fotos: Stefan Kühle