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Siegfried Wagners "Bruder Lustig"
weckt mit seiner nervenden Allwissenheit, Allgegenwart und Allmacht Assoziationen
an einen Old Shatterhand im Mythenwald. Doch passen die vielen verliebten,
verlobten, verheirateten Frauen und Mädchen nicht ins Bild des Mayschen
Männlichkeitsidols - und schon gar nicht hätte der große Fabulierer
seinen Helden eine Massenvergewaltigung anordnen lassen! "Bruder Lustig"
- Heinrich von Kempten - tötet, ist auf der Flucht, nutzt die sexbesetzte
Andreasnacht für amouröse Erfolge, spielt Kaiser und Städte gegeneinander
aus, benutzt Frauen, egal ob unschuldig, verschlagen, zickig oder mystisch
zaubernd und ist am Ende der unwiderstehliche nice guy.
Zu Zeiten teutonischen Größenwahns (1905) uraufgeführt, während der Katastrophe
1944 (!) zuletzt auf der Bühne, gerät das schreckliche Opus in der Hagener
"Wiederentdeckung" zu einer mittelalterlich raunenden Mär teutonischer
Irrationalität. Da gibt es viele kluge Beiträge im hochinformativen Programmheft
(schließlich ist Hagens Chefdramaturg Peter P. Pachl unbestrittener Siegfried-Wagner-Experte),
doch gelingt es der augenscheinlich von der komplexen Materie zwischen
Realität und Phantastischem hin und her gerissenen Regisseurin Renate
Liedtke-Fritzsch nicht, die nötige Distanz für eine angemessene Deutung
zu finden.
Das düstere Treppengelände von A. Christian Steiof verstärkt den Eindruck
mythischer Reproduktion, wenn auch seine Kostüme mit zeitgeschichtlichen
Verweisen kritische Kommunikationsangebote machen. Doch beharrt die Regie
auf rätselhaftes Hin und Her, es gelingt keine szenische Deutung; und
wenn die leidende Walburg am Schluss aus der Szene tritt, ist das eine
Pointe, kann aber nicht die stundenlange Mystifizierung permanenter Brutalität
- und ihrer Akzeptanz! - konterkarieren.
Georg Fritzsch präsentierte Siegfried Wagners spätromantisch orientierte
Komposition mit dem Philharmonischen Orchester Hagen sehr behutsam, äußerst
präzise in den aussagestarken Instrumentengruppen, vor allem in den sinfonischen
Passagen sehr getragen, emotionale Befindlichkeiten herausarbeitend. Doch
auch da desavouiert sich der Komponist durch verklemmte Sentimentalität
und hemmungslose Gewalt.
Für das Ensemble keine leichte Aufgabe: darstellerisch an unausgegorene
Regieanweisungen gebunden, nutzte Dagmar Hesse die Chance zur solistischen
Glanzleistung, allerdings im wesentlichen auf leidende Lyrismen bezogen;
da allerdings beeindruckte ihr weichströmender Sopran, intonationssicher,
sehr geschmeidig und äußerst stimmschön. Volker Thies fehlte es als Heinrich,
trotz guten Materials, an der nötigen Power, um die Nuancen des rücksichtslosen
biedermännischen Desperados zu vermitteln. Höhepunkt: Stefan Adam als
Gegenspieler Konrad, dessen Bariton zwischen weichem und metallischem
Timbre changiert und das Haus füllt. Schade, dass es dem bewundernswerten
Hagener Theater nicht gelang, an die überzeugende Neu-Produktion von Siegfried
Wagners "An allem ist Hütchen schuld" anzuknüpfen. Dabei liegt es auf
der Hand, das teutonische Epos als Drama von Mädchenträumen in Männerfantasien
zu hinterfragen.
Das Premierenpublikum reagiert reserviert - positiv, doch blieben Irritationen
unüberhörbar. Ein Besuch in Hagen - allein des bislang Unerlebten wegen
- lohnt allemal. (frs) |
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