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Fakten zur Aufführung 

MERLIN ODER DAS WÜSTE LAND
(Tankred Dorst/Johan Simons/Richard Wagner)
4. Oktober 2007
(Premiere 27. September 2007)

RuhrTriennale
(Zeche Zweckel Gladbeck)

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Scheitern lernen

Johan Simons und seine Schauspieler sind seit Jahren der Ruhrtriennale mit herausragenden Inszenierungen verbunden. Die Neuinszenierung von Tankred Dorsts "Merlin" 2007 schließt sich stilistisch an die letzten Produktionen an - Calderóns "Das Leben, ein Traum" (2006) oder Tom Lanoyes "Fort Europa" (2005). Die von der normalen Stadttheater-Bühne abweichende offene Spielfläche und die intensive Integration von Live-Musik sowie die lockere Behandlung des Textmaterials bilden die Charakteristika des Simon'schen Theaters.

Die Inszenierungen von Simons haben sich von jeher dadurch ausgezeichnet, dass sie sehr in der Realität verankert sind, nie ist es Theater bloß um der Stücke oder inszenatorischer Spitzfindigkeiten willen. Simons kam in seinen Anfängen mit den Aufführungen direkt zu den Menschen, spielte auf Bauernhöfen, in Fabrikhallen, zu Hause und in anderen Off-Bereichen. Auch heute, wo er fest beim Nationaltheater in Gent engagiert ist und an etablierten Orten wie der Pariser Bastille Oper inszeniert, sucht er wie jetzt bei der Triennale alternative Spielstätten auf und tourt mit seinen Produktionen durch Europa. Entscheidend ist immer der enge Konnex zwischen Theater und Publikum. In der Monumentalität der Halle Zweckel mit einer Spielfläche von schätzungsweise 40 m Breite, ereignet sich das Spielen situativ und mit wenigen Requisiten. Den Realitätsbezug fordert Simons auch von den beteiligten Schauspielern, die als Individuen hinter der dargestellten Rolle noch erkennbar sein müssen: "meine Arbeit mit Schauspielern beinhaltet viel Methodisches: Musikalität, Intelligenz, Bewusstsein für den Raum, die Fähigkeit, von einem Charakter in einen anderen zu wechseln. (...) Ich will, dass die Schauspieler im Hier und Jetzt spielen. Ein Schauspieler muss sich ständig bewusst sein, warum er auf der Bühne steht. Ich will, dass die Schauspieler sich auf der Bühne selbst gestalten. Das setzt ein sehr physisches Bewusstsein voraus. Es macht den Schauspieler souverän und stark, aber es macht ihn auch verwundbar und, vor allem, sehr menschlich".

Tankred Dorsts "Merlin" ist als Musiktheater angekündigt. Zwei Konzertflügel, Hammondorgel und Synthesizer sind die instrumentale Grundlage für Ausschnitte aus Wagners "Parsifal" in einem irrwitzigen Arrangement von Jan Czaijkowski und Christoph Homberger. Das Arrangement entschlackt und verschlankt Wagner, erinnert mit Hammondorgel und Synthesizern an den Musikstil der siebziger Jahre, die Entstehungszeit des Dramas - Dorst schrieb das Stück 1978-1981 auf Anregung von Peter Zadek. Die Bearbeitung, gespielt von Jan Czaijkowski, Tom Deneckere und Tom van der Schueren, behält aber, und das ist verblüffend, den Wagnerschen handlungstreibenden Sog der Musik; ganz intensiv und überzeugend etwa bei der Verwandlungsmusik: 'Zum Raum wird hier die Zeit'. Zwei Sopranistinnen, Lenka Brazdilikova und Priske Dehandschutter, der Tenor Christoph Homberger, als Parzival einer der Hauptdarsteller, und das Schauspielerensemble bilden den vokalen Part.

Die Neuinszenierung von Johan Simons liefert gerade an diesem Ort einen Abend mit fesselnden Darstellern in einer faszinierenden surreal wirkenden Aufführung. Das Monströse des Stoffes wird mit einer leichten, ironischen Beiläufigkeit erzählt, was durch den niederländisch-flämischen Akzent, sonst aber textsicher in deutscher Sprache vorgetragen, unterstützt wird. Das Personengerüst von Dorst wurde drastisch reduziert, Mehrfachbesetzungen – Louis van Beek spielt etwa zugleich Artus wie dessen Freund und späteren Gegner Lancelot – brechen die Inszenierung noch weiter.

Die Inszenierung für die Triennale verfügt über eine dem Original gegenüber grundlegend geänderte Textgestalt. Gespielt wird eine durch den Dramaturgen Koen Haagdorens radikal verknappte und gestraffte Fassung. Etwa nur 10 % des Textmaterials des 260 Druckseiten umfassenden Mammutwerkes wird benutzt mit einer Spiellänge von etwa 2 ½ Stunden. Das Konzentrat soll die Essenz der Geschichte liefern. Vom Handlungsablauf her ist der Vater-Sohn-Konflikt (Artus-Mordred), damit der Konflikt zwischen Tradition/Pflichterfüllung und Neuerung, Ordnung und Chaos in den Vordergrund gestellt. Der Parzival-Strang von "Merlin" ist durch eine veränderte Gewichtung deutlicher präsent und durch die Musikwahl als handlungstragendem Kontinuum deutlich hervorgehoben.

Merlin (Wim Opbrouck) als Mischung von Entertainer und negativem Visionär beginnt den Abend als Erzähler, im direkten, intimen Kontakt zum Publikum. Statt als Zauberer wie bei Dorst erscheint er als Künstler in einem Atelier mit Farben und allerlei Baumaterial, Rigips, Sandsäcke, Rohre für die Produktion aktueller Trash-Kunst. Hier erdenkt, erschafft er die im Stück handelnden Figuren, die nach und nach unter Planen und aus allen Ecken und Enden des offenen Ateliers entstehen wie dann nach und nach die mittelalterliche Szene. Dieser spielerische Coup de theâtre nimmt der Thematik die entfernte Größe, bringt das Stück näher. Die Kostüme von Valentine Kempynck mit Myriam Van Gucht sind in der gleichen Baumarktästhetik aus Folien und Säcken fantasie- und wirkungsvoll entworfen. Die (herrschaftlichen) Rollen entstehen bei Simons im Spiel und nicht durch pompöse Kostüme.

Trotz der wunderbaren Schauspieler und der spielerischen, leichten Inszenierung wird nicht klar, worauf die Inszenierung letztendlich hinaus will. Die Betonung des 'Wir machen Theater'-Gestus, des 'Wir zeigen euch, was es so gab und in welchem Desaster es endete', die Notwendigkeit von Utopie und Gegenutopie, das Scheitern beider Modelle mit der Hinterlassenschaft eines letztendlich durch menschliche Ideen und Handlungen verwüsteten Landes, gibt der im Kern pessimistischen Weltsicht Dorsts eine ironische Brechung. Die Handlungsfäden - die Geschichte der Artus-Ritter und ihrer Tafelrunde, der lange Weg Parzivals vom Toren zum bewussten Menschen, die Vater-Sohn-Konflikte, das Dreiecksverhältnis Artus-Lancelot-Ginevra, Merlin, der als Sohn des Teufels die Menschheit zum Bösen befreien soll, sich aber als selbstbestimmtes Wesen auch vom Auftrag seines Vaters lösen will und die Geschichte vom Gral - sind erhalten geblieben. Mit der neuen Schlussszene, in der Königin Ginevra den gerade umgekommenen Mordred in die Badewanne setzt und ihm ordentlich Theaterfarbe abwäscht, ist man dann im Alltag angekommen, indem es laut Tankred Dorst ohne Utopie auch nicht weitergeht: "Trotzdem glaube ich, dass man ohne Utopie oder, bescheidener formuliert, ohne einen Lebensentwurf gar nicht leben kann. Man steht schon morgens mit einer kleinen Utopie auf: hat sich verabredet, plant ein Projekt, eine Reise. Deswegen putzt man sich die Zähne und bleibt nicht im Bett liegen. So ist das menschliche Leben." Oder in der Perspektive von Johan Simons: "Die Suche nach neuen Utopien ist deshalb ungemein wichtig: Man kann Kinder nicht nur mit der Botschaft erziehen, dass unsere Welt kaputt ist." (du)

 


 Fotos: Ursula Kaufmann