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Fakten zur Aufführung 

VANESSA
(Samuel Barber)
16. Mai 2009 (Premiere)

Stadttheater Gießen


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Musik

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Warten, warten - und schweigen

Da hatten die Theatermacher von Gießen mal wieder den „richtigen Riecher“, was die jüngste Ausgrabung in Sachen Musiktheater angeht. Vanessa von Samuel Barber wurde nach der Uraufführung 1958 an der New Yorker Met heftig umjubelt, war ein Riesenerfolg für den Komponisten wie für die Interpreten. In Europa ist das Stück (nach Tania Blixens Seven Gothic Tales) jedoch kaum einmal inszeniert worden. In Salzburg wurde es im Uraufführungsjahr als Beitrag der Festspiele gemacht – aber wohl argwöhnisch betrachtet. 1961 kam es in Spoleto heraus – im Rahmen jenes Festivals, das Gian Carlo Menotti, Lebenspartner Samuel Barbers und Librettist von Vanessa, gegründet hatte. In den darauffolgenden Jahrzehnten gab es zwei, drei Neuproduktionen, mehr nicht.

Vielleicht verhilft jetzt die Gießener Inszenierung dem Werk zu neuem Leben. Es wäre ihm zu wünschen, denn Vanessa bietet alles, was eine gute, kurzweilige, spannende und vor allem dramaturgisch überzeugende Oper braucht.

Vanessa ist eine Dame mittleren Alters, die seit zwanzig Jahren irgendwo in einem Anwesen im Hohen Norden nichts weiter tut als warten. Warten auf ihren Geliebten Anatol. Dieses Warten zeitigt einen Lebenswandel, der in Ritualen erstarrt. Vanessas Mutter, die alte Baroness, praktiziert ihrer Tochter gegenüber nur dieses eine: Schweigen. Erika, Vanessas Nichte, wartet irgendwie mit in dieser trostlosen Umgebung, in einem Haus, das Nicholas und Clara, die beiden Bediensteten, in Ordnung halten.

Da endlich kommt er: Anatol! Anatol der Jüngere, müsste man sagen. Denn es ist der Sohn des Geliebten. Und an diesem Punkt fängt Samuel Barbers Oper eigentlich so richtig an. Erst ist Vanessa entsetzt, weil sie mit dem „falschen“ Anatol nichts anzufangen weiß. Dafür hat Anatol gleich bei seiner Ankunft ein Auge auf Erika geworfen – und nicht nur das! Doch im Laufe von vier Wochen hat sich die Chemie zwischen Vanessa und Anatol bedeutend verbessert, man gibt im ganzen Dorf die Verlobung bekannt. Der alte Doktor hält eine Rede – und schaut anschließend sehr tief ins Champagnerglas. Erika ist zerstört: sie liebt Anatol, zugleich hasst sie ihn. Sie lässt Vanessa („die so lange warten musste“) quasi den Vortritt – und irrt hinaus in die einsame kalte Winternacht, wird aber noch rechtzeitig vor dem Erfrieren gefunden. Abermals vier Wochen später: Vanessa und Anatol sind inzwischen verheiratet und packen ihre Koffer. Ihr Ziel ist Paris. Zurück bleiben: die alte Baroness, das Hauspersonal – und Erika, die nun das tut, was ihre Tante Vanessa zwanzig Jahre lang zu tun gezwungen war: zu warten!

Barbers Oper ist ein feines Kammerspiel, in dem es um Sehnsüchte, um unerfüllte Träume und Visionen geht. Nicht nur Vanessa wartet auf deren große Erfüllung. Vielmehr scheint jede der Hauptfiguren libidinöse Defizite zu verspüren – und mehr schlecht als recht in den Griff zu bekommen. Barber breitet diese menschlichen Lebensgefühle vor allem in Monologen und Dialogen aus; einige Ensembles vom Terzett bis zum Quintett unterstreichen vor allem im zweiten Teil von Vanessa die dichte Atmosphäre, die bereits in der kurzen Orchesterouvertüre aufscheint. Musikalisch bewegt er sich auf einem Terrain, das nirgends die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität überschreitet. Richard Wagner, Richard Strauss, Giacomo Puccini – ohne diese und etliche andere Meister ist sein Werk nicht denkbar. Und dies ist gewiss der Grund, dass Barbers Erstlingswerk für das Musiktheater vor gut fünfzig Jahren in Europa schlecht ankam: da wehte der Wind aus ganz anderer Richtung.

Inzwischen hat sich vieles geändert. Pluralismus der Stile ist in den Opernhäusern längst Normalität. Gleichwohl gilt diese Bedingung: auch eklektische Werke müssen gut und absolut professionell gemacht werden, damit sie überzeugen. Und da setzt Gießen in der Umsetzung von Barbers Vanessa fraglos Maßstäbe.

Intendantin Cathérine Miville inszeniert auf einer schrägen Drehbühne, auf der sich Podeste zu Treppenstufen formen (Ausstattung: Lukas Noll), auf denen sich die Akteure zu- oder auch gegeneinander bewegen. Miville arbeitet die Beziehungen deutlich heraus und geht dem dialogischen Charakter von Vanessaauf den Grund. Dabei ist eine tief hängende, den Boden spiegelnde Decke Sinnbild für die Enge und Begrenztheit der Welt, in der die Figuren ihr Leben fristen.

Aber das Regieteam begeht auch nicht den Fehler, zu viel in das Personal auf der Bühne hineinzulegen. Denn Barber und seinem Librettisten gelangen sicher keine tief psychologisch ausgestalteten Figuren. Eher hat man das wohlig voyeuristische Gefühl wie nach der Lektüre eines leicht schaurigen englischen Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts.

Gesungen wird fabelhaft. Sabine Paßow ist eine leidenschaftliche Vanessa, die alle in ihr aufgestauten Gefühle mit raumgreifender, in der Höhe allerdings mitunter angestrengt und nicht präzis anspringender Stimme zum Ausdruck bringt. Leidenschaft! - darin steht ihr Dan Chamandy als Anatol in nichts nach. Manchmal allerdings ist sein Tenor schlichtweg zu knallig und hält sich zu sehr auf im dynamischen Bereich eines Dauerforte. Die kompromisslos nach der wahren Liebe suchende Erika gibt Odila Vandercruysse: ein schöner, in allen Lagen ausgeglichener Sopran von weichem, geschmeidigem Timbre. Makellos! Deshalb bekommt sie vom Premierenpublikum auch besonders stürmischen Beifall.

Cornelia Wulkopf ist als weitestgehend schweigende alte Baroness ein würdiges schlechtes Gewissen (mit schöner Alt-Tiefe), Edward Gauntt ein heimlich in Vanessa verliebter und mit sattem Bariton ausgestatteter Dorfarzt. Tomi Wendt und Rodica Badircea-Mitrica gehen sängerisch wie schauspielerisch auf in ihren Rollen als omnipräsentes mitfühlendes Dienerpaar.

Am Pult des Philharmonischen Orchesters Gießen steht dessen stellvertretender Generalmusikdirektor Herbert Gietzen und formt Bühne und Orchestergraben zu einem runden Ganzen, gestaltet die Partitur überaus sängerfreundlich, lässt sein Orchester aber durchaus auf mal „aufdrehen“. Da schäumt es dann richtig romantisch.

In Gießen geht das Publikum (sympathisch bunt gemischt aus Jung und Alt, hier fein herausgeputzt, dort eher leger) mit gespannter Aufmerksamkeit in die Premiere, lässt sich auf das Unbekannte ein und wird mit einem unterhaltsamen, anregenden Opernabend belohnt.

Christoph Schulte im Walde

 








 
Fotos: Rolf K. Wegst